Geisteswissenschaften 3.0

Dr. Heinz Nauer, SAGW, Redaktor

Vor zehn Jahren rief das US-amerikanische Technikmagazin Wired in einem Artikel das Ende der Theorie aus. Warum Texte lesen, Modelle und Theorien bilden, wenn die Auswertung von digitalen Daten die Antworten auf alle unsere Fragen liefern? Der Text war eine Provokation, die nicht zuletzt auch an die Geisteswissenschaften gerichtet war – allerdings keine Bestandesaufnahme. Geisteswissenschaftler können zwar durchaus Gefallen finden an der Rolle des distanzierten Kulturkritikers, doch hat die Digitalisierung längst auch die Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften, die Geschichte oder die Religionswissenschaften erfasst. In der Schweiz ist über die Jahre eine Landschaft von digitalen Infrastrukturen, Forschungsplattformen, Netzwerken, Datenbanken und Repositorien entstanden, die Texte, Bilder, Ton- und Videodokumente sammeln, anreichern, zugänglich erhalten und frei zur Verfügung stellen. Heute zählt die Schweiz nach einer Angabe der SAGW etwa 50 relevante Plattformen, die Daten für die Geisteswissenschaften aufbereiten und kuratieren.

Schillernde Begriffe
Eine zentrale Forderung an die Betreiber dieser Plattformen ist, dass sie Daten offen, kostenlos, wiederverwertbar und möglichst langfristig zugänglich machen. Die SAGW lud am 2. November zu einer Tagung ein, an der Akteurinnen und Akteure, die am digitalen Wandel der Geisteswissenschaften in der Schweiz arbeiten, Fragen rund um Open und FAIR Data diskutierten. FAIR, GDPR, PID, DOI, ARK, RDF, CC-BY und API – die digitale Welt ist voller Abkürzungen. Doch auch, wenn man die Begriffe ausschreibt, besteht für den Geisteswissenschaftler, der sich nicht jeden Tag mit Binärziffern auseinandersetzt, weiter Klärungsbedarf. Kurz: Es geht um Dinge wie Grundsätze fürs Datenmanagement, langfristige und eindeutige Identifikatoren, standardisierte Metadaten, Lizenzen und Programmierschnittstellen.

Geisteswissenschaften des 21. Jahrhunderts
Die Tagung zeigte indes, dass die Herausforderungen nicht nur darin bestehen, möglichst breit akzeptierte technische und rechtliche Standards im Datenmanagement zu finden. Es gibt eine ganze Reihe zusätzlicher Aspekte, die nach weiterer Diskussion und Kooperation verlangen. So war an der Tagung etwa die institutionelle Verortung digitaler Initiativen und Forschungsplattformen ein Thema. „Wir sind daran, die Geisteswissenschaften des 21. Jahrhunderts zu bauen. Und diese spielen sich nicht in den alten institutionellen Grenzen ab“, sagte Gerhard Lauer vom Digital Humanities Lab der Universität Basel in einer Podiumsdiskussion, welche die Tagung abschloss. Doch noch längst nicht jeder Archäologe, Sprachforscher oder Historiker verfügt über das nötige Know-how, zunehmend frei verfügbare und qualitativ hochstehende Daten für seine Forschung auch wirklich fruchtbar zu machen, und umgekehrt hat nicht jeder Datenkurator das nötige Kontextwissen, relevante Datenkorpora auszuwählen und diese klug zu befragen. Hier gilt es noch viel Basis- und Übersetzungsarbeit zu leisten, wie auch Lukas Rosenthaler, ebenfalls vom Basler DH Lab, in einem Votum betonte.

Förderung der Open Science Community
Die Open Science fordern nicht nur die einzelnen Forscher und die Fakultäten heraus, sondern auch die Förderinstitutionen. Braucht die geisteswissenschaftliche Open Science Community in der Schweiz eine zentrale Koordination und Governance? Und wer bestimmt in Zeiten, in denen interdisziplinäre Kooperationsprojekte und vielleicht tatsächlich auch neue, von Daten mitgetriebene Forschungsfragen institutionelle Grenzen zusehends verschwimmen lassen, eigentlich was fördernswerte Forschung ist? „Wir befinden uns zurzeit in einer Situation der Unordnung und der Entropie“, sagte Aysim Yilmaz, Leiterin der Abteilung für Biologie und Medizin des Schweizerischen Nationalfonds. Es sei nicht mehr so klar, welche Förderinstrumente, wo zum Tragen kämen, meinte auch Gabi Schneider, Projektleiterin im Programm „Wissenschaftliche Informationen“ bei Swissuniversities.


Das Tagungsprogramm und weitere Informationen finden Sie hier:
http://www.sagw.ch/de/sagw/veranstaltungen/vst-2018-sagw/opendata.html

Kommentare

Unknown hat gesagt…
Interessant. Auf Grund welcher Quellen kommt die SAGW auf „50 relevante Plattformen, die Daten für die Geisteswissenschaften aufbereiten und kuratieren“? Ein Hinweis oder besser ein Link würde mich interessieren. Danke schon jetzt.
SAGW hat gesagt…
Die Zahl beruht auf einer Zusammenstellung von Beat Immenhauser, die er am Workshop "DARIAH-CH" in Neuchâtel präsentiert hat. Die Präsentation ist auf Zenodo (https://doi.org/10.5281/zenodo.1683620), Folie 8. Eine Liste haben wir nicht, aber wir werden voraussichtlich für die Schweizer Variante von AGATE (https://agate.academy/) eine Umfrage zu vorhanden Infrastrukturen durchführen.