Dr. Renata Coray, Prof. Dr. Alexandre Duchêne und MA Philippe Humbert, Institut für Mehrsprachigkeit, Universität und PH Freiburg/Fribourg
Sprachen, Sprechende und Sprachpraktiken zu zählen, ist alles andere als einfach. Die sprachliche Diversität und Variabilität muss reduziert werden, um quantifizierbare Informationen zu erhalten, was sowohl praktische als auch konzeptionelle Herausforderungen mit sich bringt. Unsere Forschungen zur Produktion und Diffusion von Sprachenstatistiken in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert verdeutlichen die komplexen wissenschaftlichen und politischen Einflüsse nicht nur auf die Erhebung und Verarbeitung sondern auch auf die Verbreitung und Aneignung dieser Daten.
Mit diesem Problem konfrontiert sahen sich Generationen von Einwohnerinnen und Einwohnern der Schweiz, die alle zehn Jahre den Fragebogen der eidgenössischen Volkszählung ausfüllen mussten und sich bei der Frage nach der Muttersprache (1880 bis 1980) bzw. Hauptsprache (ab 1990) für eine einzige Sprache zu entscheiden hatten. Seit 1990 erhebt das zuständige Bundesamt für Statistik (BFS) zusätzlich die regelmässig zu Hause und an der Arbeit bzw. in der Schule gesprochenen Sprachen. Damit ist dem Ruf, insbesondere von Seiten von soziolinguistischen Fachleuten, entsprochen worden, weniger familiäre Herkunft und stärker sprachliche Praktiken ins Zentrum zu rücken und die bisher dominierende monolinguale Konzeption der Sprechenden zu differenzieren. Seit 2010 ist die zehnjährliche Vollerhebung einer jährlichen Stichprobenerhebung, der sogenannten Strukturerhebung gewichen. Seither besteht die Möglichkeit, mehr als eine Hauptsprache anzugeben, womit das Dilemma vieler «Secondos» und Sprechenden von Minderheitensprachen, die zwangsläufig die Sprache der Mehrheit gut beherrschen müssen, gelöst wurde. In der Folge hat sich der Anteil der als Hauptsprache genannten «anderen Sprachen» sprunghaft erhöht: von 9% im Jahr 2000 auf fast 20% im Jahr 2010. Diese (scheinbar kleine) methodologische Modifikation hat deutliche Auswirkungen auf das Resultat und belegt das Bedürfnis zahlreicher Befragten, mehr als eine Hauptsprache anzugeben. 2014 schliesslich hat das BFS zum ersten Mal die thematische Stichprobenerhebung ESRK (Erhebung zur Sprache, Religion und Kultur) durchgeführt, welche rund 30 Sprachenfragen beinhaltet.
Die Quantifizierung von Sprache ist kein neutraler Prozess, auch wenn Zahlen die Aura einer objektiven Wahrheit umgibt. Die Festlegung und Formulierung der Sprachenfrage(n), die vorgegebenen Antwortmöglichkeiten, die Erhebungsmethoden und die Auswertungen sind alles Etappen, welche Entscheidungs- und Selektionsprozesse beinhalten. Diese sind jeweils begleitet von Auseinandersetzungen zwischen den involvierten statistischen, politischen und wissenschaftlichen Akteuren, welche Hinweise auf die dominierenden Vorstellungen zu Sprache, Sprechenden und sprachlichen Praktiken geben. Hinter den Kulissen der Sprachenstatistiken geht es folglich lebhafter zu und her als die jeweils publizierten Zahlen, Statistiken, Grafiken und Karten vermuten lassen.
Sprachen, Sprechende und Sprachpraktiken zu zählen, ist alles andere als einfach. Die sprachliche Diversität und Variabilität muss reduziert werden, um quantifizierbare Informationen zu erhalten, was sowohl praktische als auch konzeptionelle Herausforderungen mit sich bringt. Unsere Forschungen zur Produktion und Diffusion von Sprachenstatistiken in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert verdeutlichen die komplexen wissenschaftlichen und politischen Einflüsse nicht nur auf die Erhebung und Verarbeitung sondern auch auf die Verbreitung und Aneignung dieser Daten.
Von der «Muttersprache» zur «Hauptsprache» und zu mehrsprachigen Praktiken
Hand aufs Herz, wer von Ihnen kann eindeutig sagen, was Ihre «Muttersprache» oder was Ihre «Hauptsprache» ist? Auch die Definition «Sprache, in der Sie denken und die Sie am besten beherrschen» hilft vielen nicht weiter, so z.B. all jenen, die zuhause italienisch oder portugiesisch sprechen, die aber alle Schulen in der Deutschschweiz besucht haben und Deutsch als Lese- und Schreibsprache am besten beherrschen. Auch nicht den Rätoromaninnen und Rätoromanen, die sich zwangsläufig sehr gute Deutschkenntnisse anzueignen haben und alle zwei- oder mehrsprachig sind.Mit diesem Problem konfrontiert sahen sich Generationen von Einwohnerinnen und Einwohnern der Schweiz, die alle zehn Jahre den Fragebogen der eidgenössischen Volkszählung ausfüllen mussten und sich bei der Frage nach der Muttersprache (1880 bis 1980) bzw. Hauptsprache (ab 1990) für eine einzige Sprache zu entscheiden hatten. Seit 1990 erhebt das zuständige Bundesamt für Statistik (BFS) zusätzlich die regelmässig zu Hause und an der Arbeit bzw. in der Schule gesprochenen Sprachen. Damit ist dem Ruf, insbesondere von Seiten von soziolinguistischen Fachleuten, entsprochen worden, weniger familiäre Herkunft und stärker sprachliche Praktiken ins Zentrum zu rücken und die bisher dominierende monolinguale Konzeption der Sprechenden zu differenzieren. Seit 2010 ist die zehnjährliche Vollerhebung einer jährlichen Stichprobenerhebung, der sogenannten Strukturerhebung gewichen. Seither besteht die Möglichkeit, mehr als eine Hauptsprache anzugeben, womit das Dilemma vieler «Secondos» und Sprechenden von Minderheitensprachen, die zwangsläufig die Sprache der Mehrheit gut beherrschen müssen, gelöst wurde. In der Folge hat sich der Anteil der als Hauptsprache genannten «anderen Sprachen» sprunghaft erhöht: von 9% im Jahr 2000 auf fast 20% im Jahr 2010. Diese (scheinbar kleine) methodologische Modifikation hat deutliche Auswirkungen auf das Resultat und belegt das Bedürfnis zahlreicher Befragten, mehr als eine Hauptsprache anzugeben. 2014 schliesslich hat das BFS zum ersten Mal die thematische Stichprobenerhebung ESRK (Erhebung zur Sprache, Religion und Kultur) durchgeführt, welche rund 30 Sprachenfragen beinhaltet.
Wer ist mehrsprachig?
Die seit 1990 erfolgten Anpassungen der eidgenössischen Volkszählung haben eine Vervielfachung der verfügbaren Sprachendaten zur Folge. Deren Auswertung und insbesondere die damit einhergehenden Debatten verweisen auf die unterschiedlichen Vorstellungen davon, was Mehrsprachigkeit ist. So finden wir je nach – restriktiver oder weiter – Definition recht unterschiedliche Zahlen: Als Zwei- oder Mehrsprachige können Personen mit mehr als einer Hauptsprache definiert werden (16%), mit mehr als einer regelmässig gesprochenen Sprache (39%) oder mit mehr als einer mindestens einmal pro Woche produktiv oder rezeptiv verwendeten Sprache (64%). Noch höher würde die Anzahl Mehrsprachiger ausfallen, wenn Dialekt und Standardsprache als zwei Sprachen gezählt würden, wie dies auch schon gewünscht worden ist.Die politische Dimension von Sprachenstatistiken
Der Umstand, dass die eidgenössische Volkszählung schon seit 1860 Daten zur Sprache der Bevölkerung erhebt, belegt die grosse Bedeutung von Sprachenstatistiken für die Schweiz, die sich schon früh von sprachnationalistischen Entwicklungen in den Nachbarländern abzugrenzen hatte. Die Achtung der «Vielfalt in der Einheit» wird seit dem 19. Jahrhundert hochgehalten und findet sich auch in der Präambel der Bundesverfassung. Die Zählung der sprachlichen Vielfalt soll die Entwicklung der vier Landessprachen, ihrer Sprechenden und territorialen Verbreitung dokumentieren und als Grundlage für sprachpolitische Massnahmen und Ressourcenzuteilungen dienen. Heute interessieren zunehmend Statistiken zu mehrsprachigen Praktiken und Kompetenzen. Sprachenstatistiken werden auch als Indikatoren für grundlegende gesellschaftliche Entwicklungen und politische Themen verwendet, wie Analysen und Debatten zur Migration und Integration, zum Arbeitsmarkt, zum Sprachenunterricht oder zum nationalen Zusammenhalt belegen.Die Quantifizierung von Sprache ist kein neutraler Prozess, auch wenn Zahlen die Aura einer objektiven Wahrheit umgibt. Die Festlegung und Formulierung der Sprachenfrage(n), die vorgegebenen Antwortmöglichkeiten, die Erhebungsmethoden und die Auswertungen sind alles Etappen, welche Entscheidungs- und Selektionsprozesse beinhalten. Diese sind jeweils begleitet von Auseinandersetzungen zwischen den involvierten statistischen, politischen und wissenschaftlichen Akteuren, welche Hinweise auf die dominierenden Vorstellungen zu Sprache, Sprechenden und sprachlichen Praktiken geben. Hinter den Kulissen der Sprachenstatistiken geht es folglich lebhafter zu und her als die jeweils publizierten Zahlen, Statistiken, Grafiken und Karten vermuten lassen.
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