Dr. Heinz Nauer, SAGW, Redaktor
Seit Tagen trage ich es bei mir, nehme es immer wieder zur Hand – an den Ufern der Aare, des Rheins, des Sihlsees. Es ist so haptisch und elegant, dass man es den Freunden an den sommerlichen Wassern gerne vorzeigt, und zugleich so labyrinthisch und manchmal kryptisch, dass man sich darin verirrt und eigentlich nie damit fertig wird. Die Rede ist von der neuen Ausgabe von Avenue, dem Magazin für Wissenskultur der Geistes- und Sozialwissenschaften. Die siebte Ausgabe, im Juni erschienen, befasst sich mit der Magie und Politik des Sammelns und ist mit 160 Seiten etwas «too much» geraten, wie Corinne Virchow und Mario König, Initiantin und Initiant, Geschäftsführerin und Chefredaktor im Doppelpack, im Editorial schreiben.
Akademische Gegenöffentlichkeit
Avenue ist 2015 angetreten, den von den grossen Tageszeitungen und Medienhäusern wenig repräsentierten Geistes- und Sozialwissenschaftlern sowie der kreativen Klasse (creative class) ein mediales Obdach zu geben. Das Magazin folgte damit einem Trend, der sich aus der Kritik vieler Akademikerinnen und Akademiker an den herkömmlichen Medien speist, die zu wenig hinterfragen, zu wenig nachdenken und gerade geisteswissenschaftliche Forschung, wenn überhaupt, irgendwo zwischen Feuilleton, Kultur- und Gesellschaftsteil aufgehen, oder eher: untergehen liessen. Mit ähnlichen Anliegen startete in England 2012 das Magazin «Aeon», in der Schweiz 2016 «Geschichte der Gegenwart» und bereits ein paar Jahre vorher, mit einem etwas engeren thematischen Fokus, nämlich auf die Wirtschaftspolitik, das digitale Forum «batz.ch». Allen gemein ist, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über digitale Kanäle direkt und ohne journalistische Vermittlung den Weg an die Öffentlichkeit, beziehungsweise eine Art akademisch geprägte Gegenöffentlichkeit, suchen.
Wie populär darf es sein?
Die neue Ausgabe von Avenue wartet mit einer kleinen, aber hübschen neuen Rubrik auf: Sie trägt den koketten Namen «Weltferne». Auf einer Skala von null bis fünf Punkten gibt sie an, wie weltfern der Text, der einen erwartet, sein wird. Ein Interview mit einer Ethikerin über das Verhältnis des Menschen zu seinen Daten: gar nicht weltfern; ein Text über die Philosophie des Sammelns: ziemlich weltfern; ein Essay über Kunst, Kuriositäten und Katholizismus in vormoderner Zeit: sehr weltfern. Das ist eine Spielerei, rührt aber an die alte und grundlegende Vorstellung der Reinheit wissenschaftlichen Forschens und Publizierens, der eine Popularisierung des Wissens als unreine, kontaminierte Form gegenübersteht (vgl. Hilgartner, 1990). Oder an die Frage: Wie populär darf es denn sein?
Wissen als Prozess
Die Avenue-Redaktion versuche es seinen Lesern «so einfach zu machen wie möglich, aber auch keinen Deut einfacher», schrieb ein Rezensent über die letzte Ausgabe «Junge Männer». Das Magazin erfordert Zeit. Man muss sich auf sein ausgeklügeltes Konzept einlassen, damit es sich erschliesst: Die Inhalte werden zuerst online publiziert und durchlaufen ein Open-Peer-Review-Verfahren, in dem Leserinnen und Leser die Texte kommentieren; erst später werden sie zusammen mit ausgewählten Kommentaren in einem gedruckten Heft zusammengeführt; die grundsätzlich endlose inhaltliche Debatte wird anschliessend online fortgeführt. Das ist von A bis Z geistes- und sozialwissenschaftlich gedacht. Text, Bild, Konzept und Layout korrespondieren miteinander; Funktion und Inhalt sind eng auf einander bezogen. Die digitale und die analoge Version zusammen reflektieren Wissen als einen Prozess, der nie abgeschlossen ist. Avenue geht über einen blossen Transfer von Faktenwissen hinaus, wie ihn etwa die Kommunikationsabteilungen von Hochschulen, bisweilen in populistischer Zuspitzung (vgl. Schäfer, 2015), betreiben. Gleichwohl wissen die Heftmacher um die Wichtigkeit des Handwerks der Vermittlung: Die Texte sind denn auch konsequenter als in anderen Formaten (etwa «Geschichte der Gegenwart») nach journalistischen Kriterien lektoriert. Allem in allem fügt sich hier ineinander, was man ein geglücktes, anspruchsvolles Design nennen kann.
Weltferne: 4 von 5 Punkten
Warum gibt es die Avenue? fragen die Heftmacher auf ihrer Website sich selbst. «Weil das Wissen der interpretierenden Wissenschaften nützlich ist.» Sie gleiche einem Werkzeugkasten, «mit dessen Utensilien sich Institutionen, Begriffe oder Weltanschauungen analysieren und neu zusammenbauen» liessen. Natürlich ist das etwas weltfern (ich gebe 4 von 5 Punkten in Weltferne). Doch vielleicht liegt gerade in dieser leisen Koketterie die Anziehung des Hefts, und vielleicht trage ich es deshalb so lange mit mir rum.[1]
[1] Die Auflage von Avenue beträgt gemäss Impressum 9000 Exemplare. Bei der Ausgabe zuvor waren es 10'000, bei der vorletzten 12'000 und bei der vorvorletzten 15'000 (damals aber auch zum Thema Pornografie). Bestellen kann man die Avenue hier.
Seit Tagen trage ich es bei mir, nehme es immer wieder zur Hand – an den Ufern der Aare, des Rheins, des Sihlsees. Es ist so haptisch und elegant, dass man es den Freunden an den sommerlichen Wassern gerne vorzeigt, und zugleich so labyrinthisch und manchmal kryptisch, dass man sich darin verirrt und eigentlich nie damit fertig wird. Die Rede ist von der neuen Ausgabe von Avenue, dem Magazin für Wissenskultur der Geistes- und Sozialwissenschaften. Die siebte Ausgabe, im Juni erschienen, befasst sich mit der Magie und Politik des Sammelns und ist mit 160 Seiten etwas «too much» geraten, wie Corinne Virchow und Mario König, Initiantin und Initiant, Geschäftsführerin und Chefredaktor im Doppelpack, im Editorial schreiben.
Akademische Gegenöffentlichkeit
Avenue ist 2015 angetreten, den von den grossen Tageszeitungen und Medienhäusern wenig repräsentierten Geistes- und Sozialwissenschaftlern sowie der kreativen Klasse (creative class) ein mediales Obdach zu geben. Das Magazin folgte damit einem Trend, der sich aus der Kritik vieler Akademikerinnen und Akademiker an den herkömmlichen Medien speist, die zu wenig hinterfragen, zu wenig nachdenken und gerade geisteswissenschaftliche Forschung, wenn überhaupt, irgendwo zwischen Feuilleton, Kultur- und Gesellschaftsteil aufgehen, oder eher: untergehen liessen. Mit ähnlichen Anliegen startete in England 2012 das Magazin «Aeon», in der Schweiz 2016 «Geschichte der Gegenwart» und bereits ein paar Jahre vorher, mit einem etwas engeren thematischen Fokus, nämlich auf die Wirtschaftspolitik, das digitale Forum «batz.ch». Allen gemein ist, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über digitale Kanäle direkt und ohne journalistische Vermittlung den Weg an die Öffentlichkeit, beziehungsweise eine Art akademisch geprägte Gegenöffentlichkeit, suchen.
Wie populär darf es sein?
Die neue Ausgabe von Avenue wartet mit einer kleinen, aber hübschen neuen Rubrik auf: Sie trägt den koketten Namen «Weltferne». Auf einer Skala von null bis fünf Punkten gibt sie an, wie weltfern der Text, der einen erwartet, sein wird. Ein Interview mit einer Ethikerin über das Verhältnis des Menschen zu seinen Daten: gar nicht weltfern; ein Text über die Philosophie des Sammelns: ziemlich weltfern; ein Essay über Kunst, Kuriositäten und Katholizismus in vormoderner Zeit: sehr weltfern. Das ist eine Spielerei, rührt aber an die alte und grundlegende Vorstellung der Reinheit wissenschaftlichen Forschens und Publizierens, der eine Popularisierung des Wissens als unreine, kontaminierte Form gegenübersteht (vgl. Hilgartner, 1990). Oder an die Frage: Wie populär darf es denn sein?
Wissen als Prozess
Die Avenue-Redaktion versuche es seinen Lesern «so einfach zu machen wie möglich, aber auch keinen Deut einfacher», schrieb ein Rezensent über die letzte Ausgabe «Junge Männer». Das Magazin erfordert Zeit. Man muss sich auf sein ausgeklügeltes Konzept einlassen, damit es sich erschliesst: Die Inhalte werden zuerst online publiziert und durchlaufen ein Open-Peer-Review-Verfahren, in dem Leserinnen und Leser die Texte kommentieren; erst später werden sie zusammen mit ausgewählten Kommentaren in einem gedruckten Heft zusammengeführt; die grundsätzlich endlose inhaltliche Debatte wird anschliessend online fortgeführt. Das ist von A bis Z geistes- und sozialwissenschaftlich gedacht. Text, Bild, Konzept und Layout korrespondieren miteinander; Funktion und Inhalt sind eng auf einander bezogen. Die digitale und die analoge Version zusammen reflektieren Wissen als einen Prozess, der nie abgeschlossen ist. Avenue geht über einen blossen Transfer von Faktenwissen hinaus, wie ihn etwa die Kommunikationsabteilungen von Hochschulen, bisweilen in populistischer Zuspitzung (vgl. Schäfer, 2015), betreiben. Gleichwohl wissen die Heftmacher um die Wichtigkeit des Handwerks der Vermittlung: Die Texte sind denn auch konsequenter als in anderen Formaten (etwa «Geschichte der Gegenwart») nach journalistischen Kriterien lektoriert. Allem in allem fügt sich hier ineinander, was man ein geglücktes, anspruchsvolles Design nennen kann.
Weltferne: 4 von 5 Punkten
Warum gibt es die Avenue? fragen die Heftmacher auf ihrer Website sich selbst. «Weil das Wissen der interpretierenden Wissenschaften nützlich ist.» Sie gleiche einem Werkzeugkasten, «mit dessen Utensilien sich Institutionen, Begriffe oder Weltanschauungen analysieren und neu zusammenbauen» liessen. Natürlich ist das etwas weltfern (ich gebe 4 von 5 Punkten in Weltferne). Doch vielleicht liegt gerade in dieser leisen Koketterie die Anziehung des Hefts, und vielleicht trage ich es deshalb so lange mit mir rum.[1]
[1] Die Auflage von Avenue beträgt gemäss Impressum 9000 Exemplare. Bei der Ausgabe zuvor waren es 10'000, bei der vorletzten 12'000 und bei der vorvorletzten 15'000 (damals aber auch zum Thema Pornografie). Bestellen kann man die Avenue hier.
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