Dr. Heinz Nauer, SAGW, Redaktor
Ein Satiriker streitet in einer Talk-Sendung im Schweizer Fernsehen mit dem Moderator über den Koran. Der Name eines ermordeten saudi-arabischen Journalisten wird in Radio und Fernsehen systematisch falsch ausgesprochen. Ein zum Islam konvertierter französischer Fussballer schläft mit einer minderjährigen Prostituierten. Sollen sich Islamwissenschaftlerinnen hier zu Wort melden? Sollen sie die Öffentlichkeit aufklären, wie muslimische Gelehrte den Koran interpretieren, weshalb man «Chaschuqdschi» sagt und nicht «Kaschoggi» und wie es der Islam eigentlich so mit der Prostitution hält?
Komplexität abbilden oder reduzieren?
Auf einem Podium im Rahmen der Tagung «Komplexität abbilden – Medien, Wissenschaft und die Darstellung von Islam & Nahem Osten» diskutierten am 14. Februar in Zürich Vertreterinnen und Vertreter aus den Islamwissenschaften und aus den Medien über das Verhältnis der beiden Welten Forschung und Journalismus. Sollen Journalistinnen die Komplexität von wissenschaftlicher Forschung in ihrer Arbeit abbilden oder reduzieren? Betreiben Geisteswissenschaftler ihrerseits eine «höhere Form des Journalismus», bloss «ohne Publikum», wie der Historiker Hans Conrad Peyer einmal über sein eigenes Fach sagte? Soll die Wissenschaftlerin journalistische Seitensprünge wagen?
Stefan Weidner, Islamwissenschaftler und Schriftsteller, zeigte sich pessimistisch gegenüber den Möglichkeiten der Wissenschaft, ihre Erkenntnisse via Massenmedien adäquat in die öffentliche Debatte einzubringen. «Lassen Sie ruhig alle Hoffnung fahren», sagte er. Wie über den Islam gesprochen und berichtet werde, lasse sich nicht ändern, denn «die Leute suchen sich die Diskurse, die sie haben wollen». Oder noch zugespitzter: Was sollen die Bemühungen um Wissenstransfer und das Reden von «third mission», wenn das Publikum dann doch zu den zweifelhaften Bestsellern von Autoren wie Thilo Sarrazin (Deutschland schafft sich ab, 2012) oder Douglas Murray (Der Selbstmord Europas, 2018) greifen?
Katia Murmann, Journalistin bei der Blickgruppe, sieht es ganz anders und identifizierte eine steigende Bereitschaft bei der Leserschaft, sich auf längere Texte einzulassen, die komplexe Inhalte abbilden. Ein Erklärstück zum Islam in der Onlineausgabe des Blicks beispielsweise erreiche eine Aufmerksamkeit von mitunter bis zu sieben Minuten – ein für Onlinemedien sehr hoher Wert.
Die vereindeutigte Welt
Reinhard Schulze, emeritierter Professor für Islamwissenschaft an der Universität Bern und Gründer des Forums Islam und Naher Osten (FINO), äusserte sich grundsätzlicher und ortete Hürden für die Vermittlung von komplexen Inhalten in den Tiefen des modernen Denkens: Es sei uns die Fähigkeit abhandengekommen, Komplexität, Uneindeutigkeit und enttäuschte Erwartungshaltungen sprachlich vermittelbar und für den Rezipienten erträglich zu machen, so Schulze.
2018 ist im Reclam-Verlag unter dem sperrigen Titel «Die Vereindeutigung der Welt» ein schmales Büchlein erschienen, das in eine ähnliche Richtung argumentiert. Sein Verfasser, der Islamwissenschaftlers Thomas Bauer, zeichnet darin nach, wie die Vielfalt, das Mehrdeutige und Unerwartete in Europa in den letzten 200 bis 300 Jahren sukzessive zurückgedrängt wurde. Ob in der Natur (Artensterben) oder in der Kultur (Sprachensterben): überall habe die Vielfalt nachgelassen, so Bauer. Er schliesst daraus: «Es muss so etwas wie eine moderne Disposition zur Vernichtung von Vielfalt geben.» Das gelte auch für den Bereich der Religionen: Traditionelle gelebte Religiosität weiche zunehmend entweder religiöser Gleichgültigkeit oder religiösem Fundamentalismus, so Bauer. Beiden Phänomenen gemein sei, dass sie sich schwer damit täten, Mehrdeutigkeit, Transzendenz und Komplexität auszuhalten. Die religiöse Mitte verliere an Einfluss und Sichtbarkeit. Es macht sich eine «Sainte Ignorance», eine «Heilige Einfalt» breit, wie der französischer Islamwissenschaftler Olivier Roy das Phänomen bezeichnete.
Ein Hang zur Reduktion, ein Drang zum «Auf-den-Begriff-bringen» zeigt sich auch im medialen Diskurs über den Islam. Muslime würden medial als Korane auf zwei Beinen dargestellt, sagte Reinhard Schulze, der Islam als Einheit. Ein konkretes Votum gab Christoph Keller, Kulturjournalist beim Schweizer Radio ab: Er plädierte auf dem Podium für den «Eigensinn» der Medien und der Wissenschaften: Erstere seien im öffentlichen Diskurs für das «und» zuständig, Letztere aber für das «aber».
Weitere Informationen: http://www.sagw.ch/sagw/laufende-projekte/islam.html
Ein Satiriker streitet in einer Talk-Sendung im Schweizer Fernsehen mit dem Moderator über den Koran. Der Name eines ermordeten saudi-arabischen Journalisten wird in Radio und Fernsehen systematisch falsch ausgesprochen. Ein zum Islam konvertierter französischer Fussballer schläft mit einer minderjährigen Prostituierten. Sollen sich Islamwissenschaftlerinnen hier zu Wort melden? Sollen sie die Öffentlichkeit aufklären, wie muslimische Gelehrte den Koran interpretieren, weshalb man «Chaschuqdschi» sagt und nicht «Kaschoggi» und wie es der Islam eigentlich so mit der Prostitution hält?
Komplexität abbilden oder reduzieren?
Auf einem Podium im Rahmen der Tagung «Komplexität abbilden – Medien, Wissenschaft und die Darstellung von Islam & Nahem Osten» diskutierten am 14. Februar in Zürich Vertreterinnen und Vertreter aus den Islamwissenschaften und aus den Medien über das Verhältnis der beiden Welten Forschung und Journalismus. Sollen Journalistinnen die Komplexität von wissenschaftlicher Forschung in ihrer Arbeit abbilden oder reduzieren? Betreiben Geisteswissenschaftler ihrerseits eine «höhere Form des Journalismus», bloss «ohne Publikum», wie der Historiker Hans Conrad Peyer einmal über sein eigenes Fach sagte? Soll die Wissenschaftlerin journalistische Seitensprünge wagen?
Stefan Weidner, Islamwissenschaftler und Schriftsteller, zeigte sich pessimistisch gegenüber den Möglichkeiten der Wissenschaft, ihre Erkenntnisse via Massenmedien adäquat in die öffentliche Debatte einzubringen. «Lassen Sie ruhig alle Hoffnung fahren», sagte er. Wie über den Islam gesprochen und berichtet werde, lasse sich nicht ändern, denn «die Leute suchen sich die Diskurse, die sie haben wollen». Oder noch zugespitzter: Was sollen die Bemühungen um Wissenstransfer und das Reden von «third mission», wenn das Publikum dann doch zu den zweifelhaften Bestsellern von Autoren wie Thilo Sarrazin (Deutschland schafft sich ab, 2012) oder Douglas Murray (Der Selbstmord Europas, 2018) greifen?
Katia Murmann, Journalistin bei der Blickgruppe, sieht es ganz anders und identifizierte eine steigende Bereitschaft bei der Leserschaft, sich auf längere Texte einzulassen, die komplexe Inhalte abbilden. Ein Erklärstück zum Islam in der Onlineausgabe des Blicks beispielsweise erreiche eine Aufmerksamkeit von mitunter bis zu sieben Minuten – ein für Onlinemedien sehr hoher Wert.
Die vereindeutigte Welt
Reinhard Schulze, emeritierter Professor für Islamwissenschaft an der Universität Bern und Gründer des Forums Islam und Naher Osten (FINO), äusserte sich grundsätzlicher und ortete Hürden für die Vermittlung von komplexen Inhalten in den Tiefen des modernen Denkens: Es sei uns die Fähigkeit abhandengekommen, Komplexität, Uneindeutigkeit und enttäuschte Erwartungshaltungen sprachlich vermittelbar und für den Rezipienten erträglich zu machen, so Schulze.
2018 ist im Reclam-Verlag unter dem sperrigen Titel «Die Vereindeutigung der Welt» ein schmales Büchlein erschienen, das in eine ähnliche Richtung argumentiert. Sein Verfasser, der Islamwissenschaftlers Thomas Bauer, zeichnet darin nach, wie die Vielfalt, das Mehrdeutige und Unerwartete in Europa in den letzten 200 bis 300 Jahren sukzessive zurückgedrängt wurde. Ob in der Natur (Artensterben) oder in der Kultur (Sprachensterben): überall habe die Vielfalt nachgelassen, so Bauer. Er schliesst daraus: «Es muss so etwas wie eine moderne Disposition zur Vernichtung von Vielfalt geben.» Das gelte auch für den Bereich der Religionen: Traditionelle gelebte Religiosität weiche zunehmend entweder religiöser Gleichgültigkeit oder religiösem Fundamentalismus, so Bauer. Beiden Phänomenen gemein sei, dass sie sich schwer damit täten, Mehrdeutigkeit, Transzendenz und Komplexität auszuhalten. Die religiöse Mitte verliere an Einfluss und Sichtbarkeit. Es macht sich eine «Sainte Ignorance», eine «Heilige Einfalt» breit, wie der französischer Islamwissenschaftler Olivier Roy das Phänomen bezeichnete.
Ein Hang zur Reduktion, ein Drang zum «Auf-den-Begriff-bringen» zeigt sich auch im medialen Diskurs über den Islam. Muslime würden medial als Korane auf zwei Beinen dargestellt, sagte Reinhard Schulze, der Islam als Einheit. Ein konkretes Votum gab Christoph Keller, Kulturjournalist beim Schweizer Radio ab: Er plädierte auf dem Podium für den «Eigensinn» der Medien und der Wissenschaften: Erstere seien im öffentlichen Diskurs für das «und» zuständig, Letztere aber für das «aber».
Weitere Informationen: http://www.sagw.ch/sagw/laufende-projekte/islam.html
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