Transformative Geistes- und Sozialwissenschaften – Mögliche Beiträge zu den SDGs

PD Dr. Flurina Schneider, Integrative Geographer, Centre for Development and Environment, Universität Bern und SAGUF

Sozial- und Geisteswissenschaften sollen eine wichtige Rolle bei der Umsetzung der UN Nachhaltigkeitsziele spielen (17 SDGs der Agenda 2030). Diese Forderung wird jüngst verstärkt vorgebracht, prominent im Zusammenhang mit dem IPCC Sonderbericht über 1,5 °C globale Erwärmung. Bei der Publikation dieses Berichtes wurde betont, dass die naturwissenschaftlichen Fakten zum Klimawandel inzwischen bekannt sind. Was es nun braucht, sind Beiträge aus den Sozial-und Geisteswissenschaften. Die im Detail erwarteten Beiträge entsprechen aber häufig nicht dem Forschungsinteresse oder Selbstverständnis von sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Entsprechend sind ihre VertreterInnen in öffentlichen Debatten und wissenschaftlichen Beiräten zu Nachhaltigkeitsfragen oft untervertreten.

Neue Herangehensweisen
Wie könnten sozial- und geisteswissenschaftliche Beiträge aussehen, welche den eigenen disziplinären Selbstverständnissen entsprechen? Und inwiefern müssen diese Selbstverständnisse weiterentwickelt werden, um transformativ Wirkung in Richtung Nachhaltigkeit zu entfalten? Um diese Fragen näher zu beleuchten, organisierte die SAGUF eine Nachmittagsveranstaltung mit drei Vorträgen (Prof Urs Wiesmann, Prof Christoph Küffer, Dr. Kerstin Krellenberg) und einer moderierten Plenumsdiskussion mit über 40 Teilnehmenden. Die RednerInnen und Teilnehmenden waren sich grösstenteils einig, dass die Sozial- und Geisteswissenschaften verstärkt zur Transformation der grossen gesellschaftlichen Herausforderungen im Zusammenhang mit den SDGs beitragen sollten, und dass es dazu eine Erweiterung der traditionellen Herangehensweisen bedarf. Es wurde aber intensiv darüber debattiert, was wesentliche Beiträge und legitime Rollen der Wissenschaft und Formen der Zusammenarbeit mit der Gesellschaft sein könnten.

Im Folgenden möchte ich fünf der diskutierten Praktiken und dazugehörende Veränderungstheorien kurz skizzieren:

1.    Evidenz und Kontingenz

Die Generierung von Evidenz zu sozio-kulturellen und ökonomischen Aspekten (un)nachhaltiger Entwicklung ist für verschiedene empirisch arbeitende WissenschaftlerInnen ein wichtiges Ziel. So untersucht beispielsweise die Psychologie menschliches Verhalten in Bezug auf Umweltschutz oder Massnahmen für eine verbesserte Kommunikation. Die Diskussion machte aber klar, dass sozial- und geisteswissenschaftliche Beiträge weit über die Produktion von Evidenz hinaus gehen können. Eine Historikerin betonte beispielsweise, dass die historische Analyse nicht einfach nur beschreiben und erklären will, wie Transformation in der Vergangenheit abgelaufen ist, sondern Transformation in ihrer Kontingenz aufzeigen kann. Mit anderen Worten, es geht auch darum, den Verlauf der Geschichte zu hinterfragen und Möglichkeitsräume aufzuzeigen, wie es anders hätte verlaufen können. Dadurch können die gesellschaftlichen Akteure ihre Sichtweisen auf die Welt und ihre Handlungsmöglichkeiten verändern.

2.    Dekonstruktion und Hoffnung
Kritik, Reflexion, und Antizipation sind weitere zentrale Bestandteile von sozial- und geisteswissenschaftlichen Arbeiten. Teilnehmende betonten deren Wichtigkeit, um bestehende Ungerechtigkeiten und Machtungleichgewichte aufzudecken, ethische Fragen zu reflektieren oder vor negativen Entwicklungen zu warnen. Es wurde jedoch auch betont, dass Kritik alleine nur selten zu den gewünschten Veränderungen führt. Herrschende Zustände und Diskurse müssen nicht nur dekonstruiert werden, es braucht auch konstruktive, aufbauende, und emanzipatorische Beiträge, welche Orientierung und Hoffnung für gesellschaftliches Handeln vermitteln. Dies ist besonders wichtig in einer Zeit, wo sich negative Nachrichten zur Entwicklung der Welt überschlagen.

3.    Transdisziplinäre Verbindung zwischen System-, Ziel- und Handlungswissen
Seit der Lancierung des ProClim/CASS Berichts (1997) beteiligen sich empirisch orientierte Sozial- und GeisteswissenschafterInnen an der transdisziplinären Erforschung von Nachhaltigkeitsproblemen. Sie gehen davon aus, dass die Lösung dieser Probleme nur gelingen kann, wenn man die Dynamiken versteht, welche zu ihrem Entstehen führen (Systemwissen), die Werte und Ziele einer nachhaltigeren Welt klärt und verhandelt (Zielwissen), sowie handlungsrelevantes Wissen erzeugt, welches effektive Veränderungen ermöglicht. Damit das erarbeitete Wissen Wirkung entfalten kann, braucht es eine Zusammenarbeit mit diversen gesellschaftlichen Akteuren. Diese transdisziplinären Prozesse zu gestalten und zu analysieren, ist ein weiterer wichtiger Beitrag.

4.    Förderung von Fähigkeiten
Die drei Wissensformen sind auch für Vertretende der Environmental Humanities relevant. Für sie stehen aber weniger die erzeugten Wissensbestände im Zentrum, sondern die Förderung von Fähigkeiten: Beim Systemwissen geht es um die Befähigung zum kritischen Denken und Reflektieren der Zusammenhänge, aber auch der historischen Wurzeln; Zielwissen beinhaltet die Pflege der Vielfalt als Fundament; Handlungswissen generiert die Fähigkeit, mit den grossen Veränderungen umzugehen und gesellschaftliches Zusammenleben zu erhalten. Es wird betont, dass Transformation nicht als ein rein wissensbasierter Prozess betrachtet werden soll, sondern dass es auch um Emotionen und konkretes Erleben geht.

5.    Räume für kreative und reflexive Interaktion

Um innovative Möglichkeiten auszuloten, wo wissenschaftliche Beiträge mit Emotionen und konkretem Erleben verbunden werden, braucht es aus Sicht einiger Teilnehmenden neue Ansätze wie Reallabore oder Living Labs, wo WissenschaftlerInnen mit gesellschaftlichen Akteuren an neuen Ideen und konkreten Veränderungen arbeiten. Dazu gehören auch Kunstprojekte oder die Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Wissenschaftlern wie z.B. am Eco Film Festival in Zürich oder an der Ausstellung Sounding Soil (bis vor Kurzem im Zentrum Paul Klee).


Was sind weitere Beiträge der Sozial- und Geisteswissenschaften zur Erreichung der UN Nachhaltigkeitsziele? Wir, das SAGUF Organisationsteam mit Olivier Ejderyan, Basil Bornemann, Andreas Kläy und mir, freuen uns über eine Weiterführung dieser Diskussion.

Kommentare

Sabine Lerch hat gesagt…
"Sounding Soil" ist noch bis am 28. Februar 2019 an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK zu sehen:
Zürich, Toni Areal, Rampe, Ebene 5
Mo-Fr jeweils von 9-17 Uhr, vom 22.12. bis 6.1. geschlossen
www.soundingsoil.ch