Kulturerbe und politische Machtkämpfe

Dr. Cordula M. Kessler, Kunsthistorikerin und Geschäftsführerin der nationalen Informationsstelle zum Kulturerbe NIKE, Boris Schibler, Redaktor bei NIKE

Der Wert von Kulturerbe liegt hauptsächlich in seiner gesellschaftlichen Bedeutung. Diese wandelt sich stetig und wird nicht selten auch politisch vereinnahmt. Solche Vorgänge fanden und finden auch hierzulande regelmässig statt – wie eine kleine Fallstudie aus Bern zeigt.

Aufstieg und Fall des Christoffelturms
Christoffelturm reloaded © ADB/afca. ag
Der Berner Christoffelturm war Teil der Toranlage, die den westlichen Zugang zur mittelalterlichen Stadt Bern bildete. Ursprünglich im 14. Jahrhundert rund 15 Meter hoch errichtet, erhob er sich nach seiner 1454–1470 erfolgten Erweiterung auf eine Höhe von 55 Metern – eine der monumentalsten Toranlagen der Eidgenossenschaft. Seinen Namen erhielt er von der 11 Meter hohen Figur des heiligen Christophorus, die in einer Wandnische auf der Stadtseite angebracht war. Das beeindruckende Bauwerk wurde 1865, nach heftigen Kontroversen, abgebrochen. Heute erinnern nur noch Fundamentreste sowie ein Abguss des spätgotischen Christophoruskopfes bei der Christoffelpassage, dem Südausgang der Bahnhofsunterführung, an das mächtige Bauwerk.

Symbol politischer Machtkämpfe
Die Monumentalisierung der Toranlage im 15. Jahrhundert erfolgte nicht aus militärischen Gründen. Vielmehr war sie Mittel zur Selbstdarstellung. Besucher der Stadt sollten schon von weitem erkennen, dass es sich bei Bern um einen mächtigen, selbstbewussten Stadtstaat handelte. Rund 400 Jahre später bestand diese Funktion nur mehr in der Erinnerung der Bevölkerung. Diese aber war umso bedeutender, da die junge Demokratie des knapp 20-jährigen Bundesstaats auf der Suche war nach einem angemessenen Selbstbild. Der Christoffelturm wurde zum Gegenstand, an dem sich die politischen Auseinandersetzungen zwischen Konservativen und Radikalen kristallisierten. Sahen Erstere in ihm einen Zeugen der grossen Zeit Berns (an die anzuknüpfen wäre), so galt er andererseits als «alter Zopf» der Patrizierzeit. Folglich plädierten die Konservativen für die Erhaltung des Turms, die Radikalen jedoch für dessen Abbruch, da er dem Fortschritt im Wege sei. Die Entscheidung am 15. Dezember 1864 erfolgte äusserst knapp. Gerade einmal vier Stimmen gaben den Ausschlag: Mit 415 zu 411 Stimmen wurde der Abbruch des Christoffelturms beschlossen. Der Christoffelturm wurde zum Symbol, an dem sich die politische Haltung zu den Herrschaftsverhältnissen der Vergangenheit und der eigene Umgang damit zeigen sollte. Konkret hiess das, entweder den Turm und damit einen Zeugen der feudalen Herrschaft zu erhalten, oder aber ihn zu beseitigen und so zu signalisieren, dass man sich mit Nachdruck davon distanzierte.

Abriss – ein Opfer für die Demokratie

Exemplarisch dafür ist die Person Jakob Stämpflis. Stämpfli (1820–1879) war als Berner Regierungs-, National-, kurzzeitig Stände- und schliesslich Bundesrat politisch tätig. Er gilt als einer der bedeutendsten Schweizer Politiker des 19. Jahrhunderts, der den modernen Bundesstaat massgeblich prägte. Er kämpfte an vorderster Front gegen den Christoffelturm, weil er sich für Rechtsgleichheit und Ausweitung der politischen Mitsprache der Bevölkerung einsetzte. Der Christoffelturm war somit letztlich ein Opfer für die Demokratie. So gesehen ein Umgang mit dem Kulturerbe, mit dem wir uns heute identifizieren könnten. Indes fragte man sich schon bald nach dem Abriss der Toranlage, ob die Entscheidung richtig gewesen war. Die Entfernung des Symbols hinterliess eine reale Leerstelle im Stadtgefüge.

Renaissance – Christoffel reloaded
Die Geschichte des Christoffelturms ist nicht zu Ende – in naher Zukunft wird sie um ein Kapitel reicher. Dann wird der Turm mit Hilfe modernster holografischer Technik erlebbar gemacht und somit virtuell auferstehen. Eine weitere Form des Umgangs mit dem Kulturerbe schliesst sich den bisherigen an. Und macht einem bewusst, dass dessen Bedeutung für uns alle sich wiederum gewandelt hat. Beständig ist indes die Bedeutung an sich. Sie geht weit über das Materielle hinaus und kann eigentlich kaum überschätzt werden.

Die virtuelle Wiederaufersteheung des Christoffelturms miterleben!
Christoffel reloaded – die virtuelle Wiederauferstehung des Christoffelturms beim Berner Bahnhof:
29. September 2018, 20. Oktober 2018, 3. November 2018, jeweils 19.30 – ca. 22 Uhr.
https://www.nike-kulturerbe.ch/de/kulturerbe-total/christoffel-reloaded-die-virtuelle-wiederauferstehung-des-christoffelturms-beim-berner-bahnhof/

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