Dr. Franca Siegfried Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften
Kultur! Es gibt wohl kaum einen anderen Begriff, der so
rätselhaft, so mehrdeutig und symbolträchtig die Menschheit in ihrer Geschichte
begleitet. Ein Begriff, der die Geisteswissenschaft herausfordert und schon
manch philosophisches Streitgespräch anzettelte. Die UNESCO hat bei ihrer Definition
zur allgemeinen Verständlichkeit von Kultur philosophische Feinheiten ausgeblendet:
„Die Kultur kann in ihrem weitesten Sinne als die Gesamtheit der einzigartigen
geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte angesehen
werden, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Dies
schliesst nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die
Grundrechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen“, nachzulesen
auf der homepage des Bundesamtes für Kultur. In dieser Erklärung steckt auch
das Gedankengut des Kulturerbes. Ohne Testament, Willensvollstrecker und ohne
Erbschaftssteuer überdauert Kultur als gesellschaftlichen Wert Generationen. Zumindest
weiss heute jedes Schulkind dank der Kampagne der Nationalen Informationsstelle
zum Kulturerbe, NIKE, dass sich das Kulturerbe ein Jahr lang feiern lässt. Die
Festivitäten stehen unter dem Patronat von Bundesrat Alain Berset im Rahmen des
Europäischen Jahrs des Kulturerbes 2018. „Ausgehend von seinen sichtbarsten
Elementen, den historischen Bauten und archäologischen Fundstätten, bietet sich
2018 die Gelegenheit, das Kulturerbe neu zu entdecken und in einen breiten
Dialog über seinen Wert für die Gesellschaft einzusteigen“, schreibt NIKE. Das
Recht zum Mitmachen am kulturellen Leben in der Gemeinschaft ist kein
sozialromantischer Wunsch. Dieses Recht ist seit 1948 im Artikel 27 der „Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte“ verbrieft.
Ohne Grenzen
Und was ist ein Denkmal? Braucht es überhaupt Denkmäler? Diese
Fragen werden am 9. September, 19 Uhr in Altdorf diskutiert. Wer mit dem Zug
anreist nimmt den Bus bis zur Haltestelle „Telldenkmal“. Im Kanton Uri manifestieren
so viele Denkmäler die Schweizer Geschichte, dass sie trotz ihrer Grösse in der
Hetze des Alltags verschwinden. Auf dem Rathausplatz von Altdorf schultert Tell
seit 1895 die Armbrust. Neben ihm steht sein Sohn Walterli, in Bronze versteht
sich. Auch er zeigt sich nebulös in der Wahrnehmung der Einheimischen. Ist diese
Unsichtbarkeit wirklich so schlimm? Darf sich Schweizer Geschichte nicht
selbstverständlich in das Leben der Zeitgenossen integrieren? Diese Diskussion
im Rahmen der europäischen Tage des Denkmals wird in Altdorf besonders lebendig
werden. Zumal im Kulturerbejahr 2018 der Denkmaltag einen ganzen Monat dauert.
An vier Wochenenden werden jeweils vier Regionen vorgestellt. „Ohne Grenzen“
heisst die Maxime der schweizweiten Veranstaltungen und ist eine logistische
Meisterleistung von NIKE – passend der Titel des Programms mit „hereinspaziert.ch“.
Auf 280 Seiten werden überraschende Aktivitäten mit Bild, Text und Information für
die Anreise präsentiert.
Zeugnis
Ein Denkmal muss jedoch nicht nur in Bronze gegossen oder in
Stein gemeisselt sein: Die Natur kann genauso Zeugnis von vergangenen Zeiten
ablegen. Deshalb sind die Rebberge im Lavaux wahrhaftige Denkmäler von
mühseliger Arbeit von Weinbauern, die durch unermüdlichen Fleiss eine
Landschaft am Genfersee umgestaltet und geprägt haben. In Cully werden am 1.
und 2. September interessierte Gäste erwartet.
Wer sich ein junges Denkmal als Kinderstatue vorstellt, der
liegt falsch. Ein junges Denkmal kann zum Beispiel ein Gebäude sein. In
Sachseln im Kanton Obwalden steht ein Schulhaus als Zeuge für das Schaffen von
Architekten der Nachkriegszeit. Ein Zürcher Team hat sich damals in den
1970er-Jahren verwirklicht und in Zusammenarbeit mit Pädagogen eine visionäre Schulanlage
aufgestellt. Ein kantonaler Denkmalpfleger, auch er ist keine Bronze-Statue,
wird am Samstag, 8. September durch das Gebäude führen. Im gleichen Kanton
steht am Dorfplatz von Kägiswil eine Kirche mit dem Namen Maria Himmelfahrt.
Auch dieses Bauwerk wird als junges Denkmal gefeiert. Die Kirchenarchitektur
der Nachkriegszeit von 1968 hat allerdings nichts mit barocker Opulenz
gemeinsam – Beton und Holz dominieren – kein Gold, kein Pflaumenblau.
Verständnis
An vier Wochenenden im September werden tausend kostenlose
Führungen, Spaziergänge und Gesprächsrunden über die vielfältige Kultur des
Landes angeboten. Eine Kultur verstanden als Besonderheit bzw. Identität eines
Landes transportiert als Freizeitangebot, das Konzept von NIKE ist raffiniert.
Das spielerische Erleben des Landes zusammen mit Sachverständigen? Mit dieser
Art von Kulturverständnis kann die Bevölkerung auch für eine längst verloren
geglaubte Solidarität in der Gemeinschaft sensibilisiert werden. Im Zeitalter
der Informationen und planetarischen Vernetzungen vermischen sich Kulturen zur
globalen Weltzivilisation. Gleichzeitig entstehen neue Formen der Kulturkritik,
die den Zerfall der Öffentlichkeit, der menschlichen Werte und die Zwänge der
Mobilität anprangern. „Erweitern wir unseren Blick, besuchen wir uns
gegenseitig! Nicht wie gewohnt an einem einzigen, sondern gleich an vier
Wochenenden im September finden die Europäischen Tage des Denkmals dieses Jahr
statt. Unter dem Motto «Ohne Grenzen» präsentiert jeweils eine Region ihr
kulturelles Erbe und lädt Nachbarn aus dem In- und Ausland zu einem Besuch
ein“, zu lesen auf: https://www.nike-kulturerbe.ch/de/hereinspaziertch-denkmaltage/thema-2018/
Hoffnung
Denk – mal – nach über die unterschiedlichen Arten von Kulturen,
die unser Leben beeinflussen. Nur schon die Zalando-Kultur, die dem Diktat des
Konsums gehorcht und mittels online-shopping den Massengeschmack weltweit prägt.
Müssten die Besucher der Denkmaltage nicht auch darüber nachdenken, wie sie ihre
Zukunft sehen: Liegt sie im Heilsversprechen der Digitalisierung – oder liegt
die Zukunft nicht einfach in der Kultivierung des Lebens...
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