Dr. Franca Siegfried Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften
Ein historisches Jubiläum findet im beschleunigten Zeitgeist
der Digitalisierung wenig Beachtung. Was ist schon wichtig, was vorgestern war
– oder gar vor 100 Jahren? Zumal es kaum mehr Zeitzeugen gibt, etwa vom Landesstreik
im November 1918. Ein Jubiläum kann jedoch das kollektive Gedächtnis in einem sogenannten
„Erinnerungsraum“ auffrischen – Erinnern als Wieder-Holen von historischen
Fakten. Die beiden Kulturwissenschafter Aleida und Jan Assmann (Balzanpreisträger
2017) sehen im kollektiven Gedächtnis eine der wichtigsten Voraussetzungen für
die politische Identitätsstiftung einer Gesellschaft – das gilt auch für den General-
oder Landesstreik von 1918.
Digitaler Erinnerungsraum
Auch wer sich nicht für kollektive Arbeitskonflikte,
Arbeiterbewegung oder Klassenkampf interessiert, einen Blick ins Historische
Lexikon der Schweiz aus Anlass des 100-Jahre Jubiläum des Landesstreiks lohnt
sich. Es ist auch nicht nötig, sich in ein Archiv zu setzen – ein verregneter Sonntag
daheim am Computer genügt – schon öffnen sich interessante, kollektive
Erinnerungsräume: Geschichten aus vergangenen Zeiten, die jedoch überraschend
viel mit den aktuellen zu tun haben. Das historische Lexikon ist ein
Unternehmen der SAGW.
http://www.hls-dhs-dss.ch/
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12. November 1918
„Landesstreik ist die in der Deutschschweiz übliche
Bezeichnung für die schwerste politische Krise des Bundesstaates, den
landesweiten Generalstreik vom November 1918. Er bildete den Höhepunkt der
heftigen sozialen Auseinandersetzungen, die gegen das Ende des Ersten
Weltkrieges die Schweiz wie andere europäische Länder erschütterten“, schreibt der
Historiker Bernard Degen im historischen Lexikon. Am 9. November 1918 stand die
Kavallerie in Zürich. Sie hatte den Befehl gefasst, den Zugang zum Paradeplatz bzw.
zum Bankenviertel abzusperren. „Weil der Truppenaufmarsch bei der organisierten
Arbeiterschaft allg. Empörung hervorrief, versammelte das OAK (Oltener
Aktionskomitee) sich am 7. November kurzfristig zu einer Sondersitzung. Um den
Protest zu kanalisieren, rief es nach ausführlicher Debatte zur
Arbeitsniederlegung auf.“ Für Dienstag, den 12. November, wurde der
unbefristete Generalstreik ausgerufen. Die Proklamation enthielt Forderungen, wie
etwa Einführung des Frauenstimmrechts, eine allg. Arbeitspflicht,
48-Stunden-Woche, eine Armeereform, Sicherung der Lebensmittelversorgung,
Alters- sowie Invalidenversicherung usw. „Nur an wenigen Orten geriet die Lage,
in der Regel nach Aufmärschen des Militärs, kurzfristig ausser Kontrolle, am
folgenschwersten in Grenchen, wo am 14. November drei Streikende erschossen
wurden“, schreibt Historiker Degen.
Normalfall Streik
In einem Interview mit der SAGW erklärt Bernard Degen, dass Streiken
in der Schweiz seit Mitte der 1990er-Jahren als Arbeitskampfmittel an Bedeutung
stetig zunahm, zumal seit den 1960er-Jahren unser Land 30 Jahre lang als
Sonderfall bzw fast als streikfrei galt. „Die Zunahme kann auch als Angleichung
an europäische Verhältnisse betrachtet werden – als Normalisierung“, sagt
Historiker Degen. „Seit den späten 1990er Jahren hat die Schweiz mit der Anzahl
Streiktagen bisweilen sogar Deutschland und Österreich überrundet.“ Dabei verweist
Degen den Baselbieter Lehrerverein, der aktuell eine Urabstimmung zu
Kampfmassnahmen organisiert: Bis Ende dieses Monats sollte klar sein, ob die
Lehrpersonen im Kanton bei Unstimmigkeiten mit dem Arbeitgeber künftig streiken
werden. 80 Prozent der Mitglieder sollten bei einem Konflikt bereit sein, die
Arbeit niederzulegen – Pensionierte ausgeschlossen. „Mit diesem Beschluss würde
die Standesorganisation der Lehrer de facto zur Gewerkschaft werden“, erklärt
Bernard Degen. Das bedeutet auch die Eröffnung einer Streikkasse zur Sicherung
der Lohnfortzahlung für Streikende. Diese Massnahme verlange jedoch eine
massive Erhöhung des Mitgliederbeitrages, steht auf der Webseite des
Lehrervereins. „Die Vermischung zwischen Standesorganisation und Gewerkschaft
ist offensichtlich, was sich auch in anderen Berufsfeldern abzeichnet“, so
Degen. „Die Gewerkschaften kümmerten sich einst nur um Arbeitsbedingen und die
Standesorganisation um Inhalte, dazu gehörte auch einen vereinfachten Zugang zu
Bildung.“ Weiterbildung für wenig Geld ermöglichen heute die Migros-Clubschulen
ganz selbstverständlich. „Ein Mitgliederschwund zeigt sich jedoch bei
Gewerkschaften wie auch Standesorganisationen. Es ist allerdings nicht
dramatisch, einige Bereich schrumpfen, andere nehmen zu – besonders im Dienstleistungssektor.
Nach wie vor sind SBB und Post sehr stark“, sagt Bernard Degen. Wie wird sich
der Arbeitskampf entwickeln? Prognosen kann der Historiker keine geben.
Konflikte mit dem Arbeitgeber nehmen ohne eine kollektive Bewegung neue Formen
an – immer häufiger ist die innere Kündigung bei den Arbeitnehmenden verbreitet
oder der totale Verlust von Motivation am Arbeitsplatz.
Streikrecht 1999
Noch jung ist das Streikrecht in der Bundesverfassung (18.
April 1999) Art. 28 Koalitionsfreiheit: „3. Streik und Aussperrung sind
zulässig, wenn sie Arbeitsbeziehungen betreffen und wenn keine Verpflichtungen
entgegenstehen, den Arbeitsfrieden zu wahren oder Schlichtungsverhandlungen zu
führen. 4. Das Gesetz kann bestimmten Kategorien von Personen den Streik
verbieten.“
Unia, die grösste Gewerkschaft der Schweiz veröffentlicht
eine Publikation „Streik im 21. Jahrhundert“: „Es sind 100 Jahre her seit dem
Landesstreik. Seit dem Jahr 2000 finden gemäss der amtlichen Streikstatistik
des Bundesamtes für Statistik jährlich drei bis zehn Streiks mit rund 6000
Beteiligten statt (die offizielle Statistik zählt nur ganztägige
Arbeitsniederlegungen).“ Lohnt es sich, zu streiken im Zeitalter des neoliberalen
Denkens? Die Realität zeigt, dass die Austauschbarkeit der Menschen in der
Arbeitswelt zunehmen wird, deshalb müsste nicht nur nach neuen Konsensmodellen,
sondern auch nach neuen Kampfmitteln gesucht werden – beispielsweise Kampagnen
in sozialen Medien.
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Keine Drohkulisse
--> Ein gutes Beispiel ist die Auswirkung der Austauschbarkeit in der Berufsrolle des Journalisten. Mit der Ausdifferenzierung des Berufes im News-Room hat sich ein schreibendes Proletariat etabliert. Die Zusammenlegung von Redaktionen, die bis zu acht Zeitungs-Titel mit der gleichen Geschichte füttern – eine Entwicklung, die den Beruf im Zeitalter der Digitalisierung vor neue Herausforderungen stellt. Der Beruf war jedoch schon immer ein Technologiefolger und verlangte von der schreibenden Zunft viel Beweglichkeit. Hinzu kommt jetzt, dass das Geschäftsmodell „Zeitung“ nicht mehr rentabel ist. Also haben JournalistInnen kein wirkliches Druckmittel mehr – die wenigen Köpfe, welche die News-Rooms bevölkern sind austauschbar. Streiks in der Medienbranche waren nie wirklich erfolgreich. Kurt W. Zimmermann schreibt in der Weltwoche (Nr 28.18) über das aktuelle Fallbeispiel „Le Matin“. Ein Blatt, das seit zwanzig Jahren defizitär sei. Journalisten verlangten nun lautstark mit Streikandrohungen, dass ihr Arbeitsplatz weiterhin bestehen bleibt. Ihnen fehlt allerdings die Drohkulisse – wegen streikenden MitarbeiterInnen schreibt Tamedia bei „Le Matin“ keine roten Zahlen, die existieren schon... Schweizer JournalistInnen fehlt es offenkundig an Erpressungspotenzial, im Gegensatz zu den „Eisenbähnlern“, die im November 1918 mit ihrem Streik den Alltag im Land lahmlegten.
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