Dr. Franca Siegfried Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften
Im kommenden Herbstsemester wird Peter Stamm als Friedrich Dürrenmatt
Gastprofessor für Weltliteratur an der Universität Bern unterrichten. In seinem
wöchentlichen Seminar „Das Leben ist kurz, aber die Stunden sind lang“
diskutiert der Autor mit seinen Studierenden über die Bedeutung der Zeit in der
Literatur und in der Kunst. Stamm wird mit ihnen nicht nur über theoretische
Konzepte aus Physik, Philosophie und Religion nachdenken, sondern auch in
Übungen mit der Zeit experimentieren – etwa mit Hilfe von Albert Einsteins
Relativitätstheorie.
Wie sich das
Geheimnis der Zeit lüftet
Ist eine Sekunde immer eine Sekunde? Sind Zeit und Raum unveränderlich?
Einstein hatte entdeckt, dass die Zeit langsamer fliesst und der Raum
schrumpfen kann. Damit öffnete der theoretische Physiker das Tor in eine andere
Welt bzw. jenseits der menschlichen Wahrnehmung: Scheinbar unerreichbar und
doch zum Greifen nah. Sind Raum und Zeit etwa keine Naturkonstanten? Wie ist
das mit dem Licht – breiten sich Photonen 299’792 Meter pro Sekunde aus? Für
Einstein war schnell klar, dass Zeit nur das ist, was eine Uhr misst. Er
dachte, dass Bewegung die Zeit verlangsame – seine Annahme wurde 50 Jahre
später durch die Funktion der Atomuhr bewiesen. Nach Einstein geht eine Uhr im
Flugzeug langsamer – wenn auch nur eine Milliardstel Sekunde – als am Boden.
Immerhin! Diese Zeitdifferenz wird grösser je schneller das Flugzeug fliegt.
Auf eine spielerische Art lässt sich Einsteins Gedanken zur Relativitätslehre
im folgenden Video nachvollziehen:
Wie das Ende der
Zeit beginnt
Wer etwa denkt, dass die sogenannte „Echtzeit“ als stehender Begriff aus
der Digitalisierung stammt, der täuscht sich um Jahre: 1850 wollte Julius
Reuter Börsennachrichten aus Paris sieben Stunden schneller als auf dem
üblichen Weg mit der Eisenbahn nach Deutschland bringen. Der Weg in die
Echtzeit begann mit einer 200-köpfigen gurrenden Brieftauben-Staffel. Eine
Sensation, weil damals die Zeit noch vor Einstein (1905) eine unveränderliche
Gewissheit im Leben der Menschen war. Alles brauchte seine Zeit, das Leben
wurde vom Lauf der Sonne und dem Wechsel der Jahreszeiten bestimmt. Als das
erste Untersee-Kabel eine direkte Telegrafenverbindung zwischen den Börsen in
London und Paris erlaubte, mietete Reuters 1851 ein kleines Büro in London.
Unternehmer Reuter verfolgte eine einfache Geschäftsidee: Sammeln und verkaufen
von Informationen, schnell und weltweit – inklusive Echtzeit. Seither lässt
Echtzeit sogar den Raum zwischen Sehnsucht und Erfüllung verschwinden – Aktion
und Reaktion können durchaus simultan verlaufen.
Wie sich Zeit
aufschichten lässt
Es bleibt die Frage, ob diese Echtzeit den Menschen nicht überlastet.
Immerhin ist für Physiker Zeit eine Art Illusion, die das gängige menschliche
Denken überfordert. Ökonomen haben auf Zeit pragmatisch reagiert, in ihrem
Fachbereich ist Zeit meistens als Ressource definiert: Mit Zeit lässt sich Geld
verdienen – „time is money“. Für manchen Sozialwissenschafter hingegen ist Zeit
ein komplexes Ordnungssystem der Vergänglichkeit. Dazu gehörte der
österreichische Soziologe Alfred Schütz, welcher ein Doppelleben als
Finanzjurist und Wissenschafter führte (1899-1959). Er sprach von einer
lebensweltlichen Zeit: In Überschneidungen der subjektiven Zeit als empfundene
Dauer mit den Rhythmen des Körpers (biologische Zeit), wie auch mit den
Jahreszeiten, desgleichen mit der Welt-Zeit und einem Kalender der sozialen
Zeit. Wir leben alle in diesen Dimensionen, so Schütz (Alfred Schütz, Thomas
Luckmann, Strukturen der Lebenswelt). In der subjektiven Zeit des Bewusstseins
werde das gegenwärtige „Jetzt“ in unabwendbarer Abfolge in ein „gerade Vorhin«
und schliesslich zum „vergangenen Jetzt“. Ebenso enthalte das „Jetzt“ eine
Vorausschau auf die unmittelbare, nähere und fernere Zukunft. Über die Uhr und
den Kalender werden diese subjektiven Zeitdimensionen mit der „sozialen Zeit“
verknüpft bzw. werden so mit den subjektiven Zeitdimensionen anderer Menschen
vergleichbar. Schütz erkannte in der Lebenswelt des Alltags eine Aufschichtung
von unterschiedlichen Zeitstrukturen, welche mittels Reichweiten in den
jeweiligen Lebenswelten geordnet werden können: Da wäre einerseits die
Gegenwart, die der unmittelbaren Erfahrung, hinzu kommt die Vergangenheit, eine
wiederherstellbare Reichweite in den entsprechenden Lebenswelten und
letztendlich existiert auch eine Zukunft, also Alltagswelten, die noch
ausserhalb der Reichweite liegen.
Wie Zeit aus den
Fugen gerät
Den deutschen Soziologen Hartmut Rosa interessiert, wie sich veränderte
Zeitstrukturen auf den Menschen auswirken, deshalb schreibt er eine
Zeitsoziologie mit dem Titel „Beschleunigung“. Rosa definiert Beschleunigung
kurzerhand als Mengenzunahme pro Zeiteinheit. Nach Rosa hat Beschleunigung jedoch
nichts mit der Arbeitszeit, etwa acht Stunden, zu tun, sondern mit der Zahl der
Handlungsepisoden pro Zeiteinheit. Dieses Steigerungsdiktat der Handlungen gilt
nicht nur im Job, sondern auch in der Familie und Freizeit – das Gefühl stellt
sich früher oder später ein, dass man es nicht mehr schafft vor lauter
Handlungen – die sogenannte Temporalinsolvenz stellt sich ein. „Die Wahrnehmung
der progressiven Dynamisierung und Verkürzung von ereignis-, prozess- und
veränderungsbezogenen Zeitspannen ist vom Beginn der Neuzeit an – gleichsam
seit Hamlets Klage, die Zeit sei aus den Fugen – konstitutiv für die
Grunderfahrung von Modernisierung...“ (Hartmut Rosa, Beschleunigung, Seite 460,
Suhrkamp 2005).
Wie die Schweiz
Zeit verbringt
Die Krankenkasse KTP wollte es genau wissen. Sie beauftragte 2017 die
Forschungsstelle sotomo, insgesamt 7958 Menschen über ihr Zeitbudget zu
befragen. Leider ist über Bias oder Verzerrung der offenen Online-Befragung in
der Studie nichts nachzulesen (Datenerfassung auf Online-Newsseiten „Blick“ und
„Le Matin“). Die Antworten zur Pünktlichkeit sind jedoch überraschend. In der Schweiz
ist Pünktlichkeit immer noch eine Tugend bzw. das Klischee „pünktlich wie eine
Schweizeruhr“ hat eine gewisse Aktualität bewahrt. Immerhin akzeptiert in der
Deutschschweiz 54 Prozent eine Wartezeit von 10 Minuten oder auch mal mehr, in
der Romandie sind es nur 47 Prozent und im Tessin nur noch 40 Prozent.
Wie Realität und
Fiktion verschmelzen
„Sie war nie pünktlich, aber das macht mir nichts aus, je weniger Zeit
mir bleibt, desto mehr Zeit lasse ich mir“, schreibt Peter Stamm in seinem
neusten Roman "Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ (Seite 7). Stamm erzählt vom verlorenen Gleichgewicht eines Mannes,
der in die Jahre gekommen ist. Christoph, so heisst der Protagonist, inszeniert
seine Glückssuche mit Doppelgängermotiven und Déjà-vu, dem Gefühl, eine Situation schon erlebt zu haben, begleitet
von einem Gefühl der Unwirklichkeit.
Eigentlich ist in dem Roman vieles stimmig aber auch vieles ziemlich verrückt.
In der Geschichte von Christoph schlummern jedoch auch philosophische Fragen:
Was wäre, wenn wir die Geschichte unseres Lebens schon als Buch vor uns hätten?
Würde sich das Schicksal wiederholen, würden wir gleich reagieren… Wie können
wir dem Schicksal entkommen? „Das autobiografische Ich des Romans betritt die
Welt als Doppelgänger des Autors, und alles geht noch einmal von vorne los“,
schreibt die NZZ (21.2.2018). Stamm schreibt auch: „Wenn der alte Mann stirbt,
wird alles in den Müll geworfen, weil er keine Angehörigen hat, oder weil
niemand sich für seine Sachen interessiert, nicht einmal für die paar
Schwarzweissfotos, die er besessen hat von längst verstorbenen Menschen, von
seinen Eltern…“ (Seite154). Das Thema „das Leben ist kurz“ ist nicht nur in
seinem Seminar als Friedrich Dürrenmatt Gastprofessor für Weltliteratur
an der Universität Bern präsent, sondern auch in
seinem neuen Roman.
Kommentare