Über Senioren, Woopies und Leben im Labor


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Dr. Franca Siegfried Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften
Man kann sich fragen, ob sich der schwammige Begriff „Senior“ wirklich für die Beschreibung der Alterskohorte der Baby Boomer eignet. Senior ist ursprünglich für den Geschäftspartner in der Geschäftswelt gedacht. Der Senior kann jedoch auch das Oberhaupt eines Clans sein. Und im Leistungssport sind Senioren älter als 30 bzw. sobald sie aus der Kategorie Junioren herausgewachsen sind. Über die Knacknuss Älterwerden grübeln nicht zuletzt auch Marketingleute und kreieren Kopfgeburten: Pensionisten werden zu Best- oder Silver Ager. Am Bekanntesten in der Schweiz ist jedoch der Begriff Senior. Das Altersheim mutiert zur Seniorenresidenz, Pauschalreisen werden zu Seniorenreisen und halbe Portionen verkaufen Gastwirte als Seniorenteller. An Schweizer Universitäten haben sich nebst Kinder- auch Senioren-Universitäten etabliert.

Konsument mit Ablaufdatum
Die Senioren-Universität Zürich hat ihr grosses Jahresprogramm 2018 publiziert. Ein Jahresbeitrag kostet 120 Franken und alle, die ihren 60. Geburtstag schon gefeiert haben sind mit von der Partie. Falls sie mit einem jüngeren Weggefährten zusammenleben, darf er oder sie auch mit – für sie oder ihn existiert keine Alterslimite. Am Vorlesungstag ist jeweils ab 13 Uhr die Mensa der Universität-Irchel für Senioren offen. Die Vorlesungsreihe startete am 23. Februar mit „Mehr als Genie. Die Erfindung des fotografischen Genies und die Bedeutung der Zeitschrift Camera Work“. Nach jeder Vorlesung liegt ein Video in der Hauptbibliothek im Irchel Campus bereit für alle, welche die Veranstaltung verpasst haben. Bemerkenswert ist der Hinweis auf partizipative Forschung im Programm der Senioren-Universität UZH3. Ältere Menschen sollen sich an Forschungsprojekten beteiligen – als „forschendes Lernen“. Professor Mike Martin preist die Idee in seinem Vorwort als Schlüssel für das intellektuelle Engagement von Menschen in ihrem dritten Lebensalter an. Damit wäre auch das Klischee getilgt vom stummen Bildungskonsument im Silberhaar, der seine Zeit im Hörsaal totschlägt. Mit dem „forschenden Lernen“ werden sich Baby Boomer anfreunden können. Man darf sich fragen, ob die Bezeichnung „Senioren-Universität“ noch zeitgemäss ist. Eine Universität steht für alle Generationen offen, damit das propagierte lebenslange Lernen für alle Interessierten möglich ist – und zwar vom ersten bis zum dritten Lebensalter. An Universitäten bilden sich Gemeinschaften von Lehrenden und Lernenden – unabhängig von Lebensjahren.

Vitaminpille Bildung
Was Bildung auch noch bewirkt ist in der neusten Taschenstatistik über Gesundheit vom Bundesamt für Statistik (BFS) nachzulesen (Seite 5): „Je ungünstiger die soziale Ausgangslage (z. B. gemessen am Bildungsniveau), desto schlechter der Gesundheitszustand. 30-jährige Männer mit einem tiefen Bildungsniveau weisen eine um 4,6 Jahre tiefere Lebenserwartung auf als Männer gleichen Alters mit einem Universitätsabschluss.“ Die Lebenserwartung beträgt für Frauen 85,3 Jahre, für Männer 81,5 Jahre. Seit 1990 ist in der Schweiz die Lebenserwartung der Männer um 7,5 Jahre und der Frauen um 4,5 Jahre angestiegen. Die Herausforderung ist nicht etwa, dass die Lebenserwartung steigt, sondern dass die Geburtenzahlen gleichzeitig sinken – damit ist das Schreckensszenario der „Alternden Bevölkerung“ geboren. Aus diesem Grund lancierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine praktische Umsetzung der „Global Strategy and Action Plan on Ageing and Health“ für ein neues Gesundheitsverständnis. Der Fokus liegt auf dem einzelnen Menschen, dem Individuum, auf seinen Ressourcen und seinem Umfeld. Die «Alternde Bevölkerung» beschäftigt auch die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) mit der Austauschplattform ageingsociety.ch für Akteure aus Forschung und Praxis.
  
Leben im Labor
Die Fachhochschule Ostschweiz hat für die erste Ausgabe im 2018 des Magazins „Campus“ die Alternde Gesellschaft gewählt: „Liebe Leserinnen und Leser. Wir alle werden älter. Die Lebenserwartung der Schweiz ist eine der höchsten der Welt“, schreibt der Direktor Albin Reichlin. Er bezeichnet die Alterung als Motor gesellschaftlicher, sozialer, technischer und ökonomischer Entwicklungen. Zumal der Anteil der 65-Jährigen in den nächsten 30 Jahren auf einen Drittel anwachsen wird. Damit entstehen auch neue Projekte, Initiativen und Netzwerke mit teilweise abenteuerlichen Namen: Etwa bei AGE-NT „Alter(n) in der Gesellschaft“ für eine inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit. Die Fachhochschule St. Gallen organisiert zusammen mit der Universität Genf ein „LivingLab 65+“. In diesem Labor sollen Assistenzsysteme für den Alltag getestet werden mit dem Fokus, dass 65+ solange wie möglich allein in seinen vier Wänden leben kann. Im einem anderen „Future-Dementia-Care-Lab“ sollen technische Hilfsmittel für Pflegepersonen entwickelt und getestet werden. Es bleibt zu hoffen, dass in den Testlabors sich auch 65+ tummeln dürfen als Zeitzeugen, Protagonisten bzw. als Betroffene. Eine dicht bepackte Agenda von Tagungen und Kongressen hält die Debatte zum Thema alternde Gesellschaft in Schwung. Etwa am 14. März ist im Zentrum Paul Klee eine Veranstaltung der Paul Schiller Stiftung mit dem Fokus „Gute Betreuung im Alter in der Schweiz“ geplant. Professor Carlo Knöpfel der Fachhochschule Nordwestschweiz wird eine Recherche-Studie vorstellen.
  
Als Greis in Hochform
Sogar europäische Comiczeichner passen das Disney-Universum an die demografische Situation an. In „Die jungen Jahre von Micky“, dem neusten Band des Franzosen Tébo, erzählt der gealterte Mäuserich Micky von früher. Der Disney-Mäuserich ist zum bärtigen Greis gealtert, der seinem Urgrossneffen Norbert Anekdoten von früher erzählt, und es dabei mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Es ist durchaus legitim, dass der Senior seine nicht mehr so klaren Erinnerungen zur Steigerung der Erzählung etwas anpasst. Dieses Augenzwinkern, mit dem der Comiczeichner Tébo die Thematik der „Alternde Gesellschaft“ aufarbeitet, das vermissen viele Baby Boomer in der Wissenschaft. Es ist bewiesen, dass alle älter werden, die Frage ist, wie geht jeder damit um. Was gibt es für Optionen, wie stellen sich die weniger Alten bzw. Jüngeren dazu. In den USA gestaltet sich die Selbstverständlichkeit einer alternden Gesellschaft wenigstens in der Begrifflichkeit für Senioren fantasievoller. Der Yuppie (young urban professional) wird im Alter zum Woopie – well-off older people. Die Gattung des Woopie wird auch nicht mit einer Jahreszahl taxiert, sondern mit seinen Chancen für ein gutes Leben im Alter.




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