Dr. Franca Siegfried Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften
Die Intimisierung des Öffentlichen manifestiert sich mit der
Zunahme von Softnews, Homestories, Personalisierung und Skandalisierung, die
sich über Online-Newssites und Social Networks verbreiten. Darüber hat der Forschungsbereich
Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich im Oktober eine NFP-Studie
publiziert. In seinem Abstract schreibt Patrik Ettinger über moralisch-emotionale
Weltbezüge: „(..) durch eine Komplexitätsreduktion, in der die Welt mittels
moralisch-emotionaler Stereotypen und binären Urteilen (like/dislike;
gut/schlecht; cool/uncool; Täter/Opfer) mit hoher Durchsatzgeschwindigkeit codiert
werden kann.“ Ettinger beobachtet eine „qualitätsniedrige moralisch-emotionale Newsvermittlung“,
die sich über den herkömmlichen Boulevard hinaus zum Mainstream entwickelt und Stoff
für Social Networks liefert.
Politische
Inszenierung
„Auf dem falschen Fuss erwischt“ titelt der Tages-Anzeiger
(11.12.2017). Private Fehltritte von Politikern würden tagelang die
Schlagzeilen beherrschen: „Auf seinem Twitter-Profil bezeichnet sich Yannick
Buttet als „père de famille heureux“, glücklicher Familienvater. Erst dann
folgt der Verweis auf seine politischen Ämter: CVP-Nationalrat und
Gemeindepräsident von Collombey-Muraz VS; beide hat er vorübergehend
niedergelegt, seit die Stalkingvorwürfe gegen ihn öffentlich wurden“, schreibt
der Tages-Anzeiger. Die NFP-Studie erklärt, warum persönliche Angelegenheiten
öffentlicher Personen immer wichtiger werden: Politiker geben Privates preis,
um ihre Aussenwirkung zu steuern. Das Risiko einer Skandalisierung wird dabei in
Kauf genommen. Und mit einer öffentlichen Abbitte in den Medien kann eine
Skandalisierung zum Schlusspunkt gebracht werden. „Wie Geri Müller und
Christophe Darbellay hat sich auch Yannick Buttet reumütig für seinen Fehltritt
entschuldigt – mit welchem Erfolg, wird sich zeigen“, schreibt der
Tages-Anzeiger. Für die Orchestrierung eines Skandalisierungsfinale haben
Kommunikationsberater ein neues Businessmodell erfunden.
Die Welt als Bühne
Ob sich eine Skandalisierung im Social Network gemäss
NFP-Studie als „qualitätsniedrige moralisch-emotionale Newsvermittlung“
charakterisieren lässt – diese Ansicht verlangt nach weiteren Überlegungen. Interessant
wäre etwa die Einschätzung von Erving Goffman: Der 1989 verstorbene Soziologe
benutzte das Theater als Modell für die soziale Welt. Gemäss Goffman ist das
Alltagsleben so organisiert, dass nicht nur die Schauspieler selber, sondern
auch die Zuschauer Rollen im Stück verkörpern. Bei den Politikern zum Beispiel
ist der Partei-Auftritt eine Bühne. Im digitalen Zeitalter haben sie auch das Twittern
zu ihrer Bühne aufgebaut. Dort übernimmt Buttet die väterliche Rolle mit „père
de famille heureux“. Damit vermischt er das Private und Öffentliche mit der
Absicht, sein Publikum emotional zu berühren. Politiker Buttet weiss sehr wohl,
dass Kinder und Tiere den höchsten Nachrichtenwert besitzen.
Die Macht der
Hinterbühne
Wenn da, nicht nach Erving Goffmann, die Hinterbühne wäre!
Darauf führt die Classe Politique ihre informellen Gespräche. Zur Hinterbühne
gehört ebenfalls das Private, das Intime, Geheime und Verborgene der
PolitikerInnen. Mit der Digitalisierung lassen sich jedoch innert Sekunden Gerüchte,
Fakten und Tatsachen aus dem Dunst der Hinterbühne verbreiten. Beispiel
CVP-Politiker, der vor dem Haus der Geliebten als Stalker von der Polizei abgeholt
wird. Besonders tragisch für das Opfer, aber auch folgenschwer für den
Politiker, da er als öffentliche Person auf der Vorderbühne die Rolle des
Saubermanns spielt. Mit den sozialen Netzwerken gibt es nicht nur eine, sondern
viele neue, unberechenbare Öffentlichkeiten, die kein Zeitungsverleger, kein
PR-Berater und auch kein Anwalt im Griff hat. Die Digitalisierung katapultiert
uns nicht nur in eine technologische, sondern auch in eine gesellschaftliche
Revolution und verlangt nach neuen Bearbeitungen von „alten“ Themen – beispielsweise
der Geschlechterfrage.
Sexismus, verbale
Gewalt und SDGs
Die aktuelle Übergriffsdebatte der Nationalrätinnen,
ausgelöst durch den Fall Buttet, passt in die Agenda 2030 für nachhaltige
Entwicklung (SDGs). Diese Agenda ist ein Orientierungsrahmen für unser Land in
der internationalen Entwicklungszusammenarbeit mit den Vereinten Nationen UNO. Die
Agenda wird mit 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development
Goals, SDGs) gestützt. Im Zeitraum 2017 bis 20 konzentriert sich die Schweiz
auf sieben Ziele: Dazu gehört die Stärkung der Geschlechtergleichstellung und
der Rechte von Frauen und Mädchen. Die Übergriffsdebatte, die sich im
Bundeshaus abspielt, behandelt nebst Sexismus auch die verbale Gewalt zwischen
Frau und Mann – einschüchtern, demütigen, verspotten und verachten. Die Classe
Politique hat noch viel zu lernen!
Auch die SAGW hat die Aktualität des Themas erfasst und organisiert
deshalb am 15. Februar 2018 an der Universität Fribourg eine Tagung „Gewalt
gegen Frauen in der Schweiz – von hier aus, wohin?“ am 15. Februar 2018 an der Universität
Fribourg. Studien und Statistiken zeigen, dass Gewalt gegen Frauen in unserem
Land zur Realität gehört, zumal die Dunkelziffer hoch ist. Somit fokussiert die
Tagung auf die Beseitigung aller Formen von Gewalt und schädlichen Praktiken
gegen Frauen und Mädchen im öffentlichen und im privaten Bereich. Die Tagung
steht im Rahmen der Agenda 2030 mit den SDGs bzw. Ziel Nummer 5:
Geschlechtergleichstellung.
SDGs viral im Netz
Dank der SDGs in Action App werden sich die nachhaltigen
Ziele auch über Social Networks verbreiten. Damit soll verhindert werden, dass
die Sustainable Development Goals, die weltweit zu erfüllende Liste, um Armut
zu beenden, Ungleichheiten abzubauen und den Klimawandel anzugehen, nicht
vergessen gehen. Mit deren Verabschiedung im September 2015, verpflichteten
sich alle Mitgliedstaaten der UNO die nachhaltigen Ziele bis 2030 zu erreichen.
Also berichtet auch der Bundesrat regelmässig über Erfolg, Umsetzung und Einhaltung
der Ziele der UNO. Zur Realisierung der Sustainable Development Goals (SDGs) ist
ebenfalls die Wissenschaft gefragt. Aus diesem Grund organisieren die Akademien
der Wissenschaften Schweiz zusammen mit der Schweizerischen UNESCO-Kommission am
22. Januar 2018 in Bern eine Konferenz (Anmeldung bis 17. Januar): http://www.akademien-schweiz.ch/index/Aktuell/Agenda.html
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