Dr. Franca Siegfried Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften
Wird das Christkind
kaltgestellt oder sogar arbeitslos? Am 24. Dezember erobert sich langsam aber
sicher der Weihnachtsmann den Platz des himmlischen Geschenkebringers. Die
Dominanz des Weissbärtigen ist in diesem Fall nicht nur eine Genderfrage,
Frauen sind bei der roten Gilde nicht erwünscht, sondern auch eine Frage des
Marketings. Seit 1931 wirbt Coca-Cola mit dem freundlichen Mann in Rot,
neuerdings setzen auch Schweizer Unternehmen wie Swisscom und Manor auf ihn. „Santa
Claus ist eigentlich eine Rückkehr des Samichlaus in anderem Gewand“, sagt
Mischa Gallati, Dozent für Populäre Kulturen der Universität Zürich, dem Tages-Anzeiger
(15.12.2017). Im Mittelalter brachte Bischof Nikolaus von Myra braven Kindern Geschenke.
Im 16. Jahrhundert hatte der Reformator Luther jedoch wenig Freude an der katholischen
Figur. Seine Christen sollten anders feiern und er schaffte den bischöflichen Geschenkebringer
kurzerhand ab und lancierte die Gestalt des Christkinds. Langer Rede kurzer
Sinn, schon Reformatoren kannten sich aus mit Marketing. Noch ist nicht klar,
ob es den Marketingstrategen gelingen wird, das Christkind von den traditionellen
Weihnachten in der Deutschschweiz zu verdrängen – zumal lebendige Traditionen bzw.
das immaterielle Kulturerbe in der Schweiz Hochkonjunktur hat.
Die magische
Zahl 199
Seit bald zehn Jahren besteht in der Schweiz ein Übereinkommen mit der
UNESCO zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes: 199 bedeutende Formen in
der Schweiz (Stand 2017) haben Experten unter der Leitung des Bundesamtes für
Kultur ausgewählt. Beispiel: Die Fülle an weihnachtlichen Bräuchen der
Appenzeller Innerrhodner steht als Nummer 90 auf der Liste der lebendigen
Traditionen. Nummer 43 ist das Chlauschlöpfe im aargauischen Bezirk Lenzburg, Nummer
23 der Bechtelistag in Frauenfeld, Nummer 137 Saint-Nicolas in Fribourg und 153
das Silvesterchlausen im Appenzell Ausserrhoden. Die Nummer 161 für Sternsingen
wird immer noch in 16 von insgesamt 26 Kantonen gelebt. Mit dem Beitritt zum
UNESCO-Übereinkommen verpflichtete sich die Schweiz, das Inventar zu
aktualisieren und zu pflegen.
Die nächste grosse Aktion
gilt dem Kulturerbejahr 2018 – diese Kampagne will die Menschen europaweit zur
Achtsamkeit bewegen bzw. ein zivilgesellschaftliches Engagement für die Pflege und
Entwicklung des Kulturerbes ist gefordert. Soeben hat Bundesrat Alain Berset das
Kulturerbejahr 2018 eröffnet. Der Soziologie Georg Simmel entlarvte einst die
Kultur als übergreifende Ordnung, welche die Entfaltungsmöglichkeiten des
Menschen bestimmt. Er veröffentlichte im Jahr 1900 seine Gedanken um die
Selbstverwirklichung des Menschen. „(...) durch Ideen entfaltetes Wollen und
Fühlen, das die Entwicklungsmöglichkeiten der Dinge, soweit sie auf seinem Wege
liegen, in sich einbezieht; und das verhält sich nicht anders als mit der
Kultur, die das Verhältnis des Menschen zu anderen und zu sich selbst formt: Sprache,
Sitte, Religion, Recht.“ http://socio.ch/sim/verschiedenes/1900/kul00.htm
Die Stunde der
Schatten
In diesen Tagen ist im Tessin ein besonderes Inventar publiziert worden.
671 Sonnenuhren auf Mauern, Häusern und Kirchen sind jetzt aufgelistet und
fotografisch von Agno bis Vico Morcote dokumentiert: Der Titel des Werkes „Le
ore dell’ ombra“ – die Stunden des Schattens. Gemessen an mechanischen und
elektronischen Uhren geht die Sonnenuhr ziemlich falsch, weil die scheinbare Bewegung
der Sonne nicht gleichmässig ist. Bis zur Erfindung der mechanischen Räderuhr Ende
des Mittelalters war jedoch diese Ungenauigkeit unwichtig. Die Menschen konnten
damit leben, dass die Sonnenzeit im Vergleich zur gleichmässig ablaufenden Zeit
abwich. Das Inventar der Tessiner Sonnenuhren ist eine Mischung aus materiellem
und immateriellem Kulturerbe: Das gemalte Zifferblatt auf der Hauswand hat die
Menschen in ihren Handlungen beeinflusst – egal ob der Schatten genau lief oder
bei Regenwetter ausblieb.
Schau genau hin!
„Das Bewusstsein für unsere Gesellschaft und unsere Zugehörigkeit beruht
auf einem gemeinsamen kulturellen Erbe. Dieses Erbe nehmen wir seit
Kindesbeinen bewusst und unbewusst in uns auf: über Umgebung, Traditionen,
Kunst, Gebäude, Landschaften, Essen und Handwerk. Diese Vielseitigkeit ist eine
grosse Chance, denn das Kulturerbejahr 2018 soll ein Jahr für alle werden!“, zu
lesen auf der Webseite. Die Kernbotschaft der Kampagne: „Schau hin!“. Wird das
Hinschauen genügen? Wohl kaum! Alle sind gefordert, ihre Aktivitäten unter dem
Aspekt des gemeinsamen kulturellen Erbes neu zu betrachten und im vertieften Dialog
zu entwickeln. Gefordert sind auch Marketingleute von Schweizer Unternehmer,
die sich wenig um lebendige Traditionen kümmern. Vor lauter Zahlen, Budget und
Vorgaben haben sie ihre Erinnerungen an das Gefühl verdrängt, wie einst ihr
kindliches Herz hämmerte als sie das Glöcklein des Christkinds hörten.
Gefühl als
Impfkristall der Kultur
Warum hat sich die menschliche Kultur entwickelt? Diese Frage stellt sich
der Neurowissenschaftler Antonio Damasio. Er findet Gefühle als biologischer
Ursprung von menschlicher Kultur. In seinem neuen Buch beschreibt er wie aus
ersten sensiblen Zellen sich Nervensysteme bilden, die später Emotionen und Bewusstseinsphänomene
mit erlebter Subjektivität erzeugen. Damit beginnt das Wissen des Menschen um
die eigene Existenz. Der Mensch selber reagiert auf Sinneswahrnehmungen der
äusseren Welt mit Veränderungen des inneren Milieus. Kurz gesagt, den Prozess der
Subjektivität erlebt der Mensch als Gefühl und reagiert darauf. Damasio schildert
auch, wie der Mensch mit Gefühlen, etwa Angst, Freude oder Traurigkeit, das
Entstehen von kulturellen Praktiken ermöglicht und nennt die Beispiele, Religion,
Bildende Kunst, Philosophie und Moral. Die Gedanken des Neurowissenschaftlers
könnte sehr wohl in die Debatte des Kulturerbejahres fliessen. Welche Gefühle dominieren
die Menschen in der Schweiz 2018?
Kulturerbe total
Es wird ein interessantes Jahr, das 2018. Allein die SAGW hat 16
Veranstaltungen im Rahmen des Kulturerbejahres in der Reihe „La Suisse existe“
lanciert. Das Jahr beginnt in Einsiedeln mit der Bibliothek als Wissensform in der
Stiftung Bibliothek Werner Oechslin und endet im November in Bern mit
Geschichten rund ums Schweizer Figurentheater. Die sechs Grundgefühle werden
die Menschen im 2018 begleiten: Freude, Überraschung, Angst oder Traurigkeit –
nicht zu vergessen Liebe und Hass. Nach Neurowissenschaftler Antonio Damasio
gute Voraussetzungen für Kulturen...http://www.lasuissenexistepas.ch/events.html
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