Dr. Franca Siegfried Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften
Die strategischen Ziele des Bundesrates sind gesetzt, die
Digitalisierung soll Wachstum und Wohlstand sichern. Der Aktionsplan steht. Kurzum,
es herrscht eine Goldgräberstimmung, die sich auch in der Wissenschaft
abzeichnet – Fortschritt ohne Grenzen. Im Zeitgeist der Digitalisierung
beschleunigt sich auch der Erkenntnisdrang der Menschheit. An der Universität
Bern haben Forschende in einer interdisziplinären Vorlesungsreihe des Collegium
generale über die aktuelle Fortschrittseuphorie nachgedacht. Der Grundgedanke
der Veranstaltung war, dass jede Disziplin aufzeigt, wo und was sie einschränkt
und welche Forschung bis jetzt unüberwindbar erscheint. In der Physik wird es
immer schwieriger, in das Innerste der Materie vorzudringen. In der Ökonomie
begrenzt die Komplexität der Phänomene die Möglichkeiten, genaue Vorhersagen zu
liefern. Oder die Fremdheit anderer Denkmuster limitiert den Zugang zu anderen Kulturen.
Mit den Beiträgen aus unterschiedlichen Disziplinen entstand ein Band der Berner
Universitätsschriften mit dem Titel „Grenzen in den Wissenschaften“ (Haupt
Verlag Bern, 2017). Der Physiker Claus Beisbart sucht in seinem Beitrag beispielsweise
nach Grenzen der Wissbarkeit und landet in der Philosophie bzw. Epistemologie.
Zur Bestimmung der Wissensgrenzen genüge der Wissensbegriff einer binären
Ja-Nein-Logik nicht, schreibt Claus Beisbart. Diese Logik könne die
Vielschichtigkeit der Gründe, die für oder gegen eine Hypothese sprechen,
niemals widerspiegeln.
Ohne Tunnelblick
Die Nähe zur Geisteswissenschaft findet auch der ETH Präsident
Lino Guzzella. Er beschreibt in der NZZ (25.9.2017), wie die Geisteswissenschaften
den Perspektivenwechsel in den Naturwissenschaften ermöglichen, die es für eine
ganzheitliche Sicht brauche. „Nicht alles, was technisch machbar ist, ist
gesellschaftlich wünschbar oder ökonomisch finanzierbar. Geisteswissenschaften
verhindern den Tunnelblick und stellen Technik in einen historisch-kulturellen
Kontext.“ In Zeiten des beschleunigten Wandels dürfe das historische
Bewusstsein nicht verloren gehen. „Eine kritische Haltung sich und der Welt
gegenüber macht den Menschen widerstandsfähiger – sowohl gegen
Weltuntergangspropheten wie auch gegen die quasireligiösen Schalmeienklänge
unkritischer Technologie-Apologeten. Kritisches Denken gehört zum Wesen
wissenschaftlichen Arbeitens.“
Selbsterkenntnis
„Den meisten Studierenden und Forschenden der
Naturwissenschaften fehlt die Kultur der Geistes- und Sozialwissenschaften. Die
Einrichtungen bleiben in ihren Disziplinen verhaftet, und die
Wissenschaftsforschung fällt zwischen Stuhl und Bank“, sagt Bruno Strasser. Der
Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Genf ist auch
ausserordentlicher Professor in Yale. Er beschäftigt sich mit Citizen Science
und geht im neusten Forschungsmagazin Horizonte streng ins Gericht mit der
akademischen Welt. Er bedauert, dass sich die Wissenschaftsforschung in der
Schweiz nur zögerlich entwickelt, da es nur wenige Institutionen gebe. Ein Lehrstuhl
zur Wissenschaftsforschung wurde sogar vor drei Jahren an der Universität Basel
geschlossen. Bruno Strasser betont, dass die Wissenschaftsforschung schmerzhafte
Fragen zur Funktionsweise der Forschung stellt.
Das Diktat des Biologismus
„Die Kernkompetenzen der Geisteswissenschaften –
Analysieren, Einordnen und Infragestellen – wären derzeit also dringend
gebraucht. Stattdessen sind die Geisteswissenschaften unter Beschuss.
Ein kruder Biologismus hält Einzug“, schreibt Min Li Marti in der NZZ
(25.9.2017). Sie ist SP-Nationalrätin, Verlegerin und Chefredaktorin der
Wochenzeitung «P. S.». Das Problem sei dieser «oberflächlich-mechanistische
evolutionspsychologische Ansatz», der davon ausgehe, «dass
Ingenieurwissenschaften schwierig seien und menschliche Beziehungen einfach»,
zitiert Min Li Marti die amerikanisch-türkische Soziologin Zeynep Tufekci. Es
werde den Geisteswissenschaften auch vorgeworfen, sich im Elfenbeinturm
in unverständlichem Jargon um irrelevante Dinge zu kümmern. „Tatsächlich sind
etwa poststrukturalistische Studien etwas schwer verständlich. Allerdings
bezweifle ich, dass der Mann oder die Frau von der Strasse quantenphysikalische
Abhandlungen oder ökonometrische Berechnungen besser versteht“, präzisiert Min
Li Marti. „Dennoch gelten Letztere als Wissenschaft und Erstere als
Zeitverschwendung. Wissenschaft ist unter den Zwang der Nützlichkeit gestellt.“
Nur mit Grenzerweiterung
„Für alle wissenschaftlichen Disziplinen gilt, dass sie
nicht nur in ihre autonomen Fachkulturen, sondern auch in die Gesellschaft
eingebettet sind. Die Kultur ist das übergreifende und umfassende
Erzeugungssystem, innerhalb dessen auch alle Wissenschaften ihren Platz haben.“
Dies schreibt Aleida Assmann in ihrem Beitrag zur Vorlesungsreihe des Collegium
generale in Bern (siehe „Grenzen in den Wissenschaften“, Haupt Verlag 2017). Der
Auftrag der Kulturwissenschaft sei eine präzise Selbstbeobachtung, deshalb sei diese
Disziplin von vornherein auf Grenzerweiterung und -überschreitung angewiesen,
im Gegensatz zu anderen Disziplinen. Aleida Assmann, emeritierte Professorin
für Anglistik, hat zusammen mit Jan Assmann, emeritierter Professor für Ägyptologie,
den hoch dotierten internationalen Balzan Preis 2017 gewonnen. Sie konnten mit ihrem
Konzept des „kulturellen Gedächtnisses“ aufzeigen, was das Zeit- und
Geschichtsbewusstsein, sowie das Selbst- und Weltbild des Menschen prägt. Mit
dem Konzept des „kulturellen Gedächtnisses“ müsste sich der ETH-Präsident Guzzella
weniger sorgen, dass in Zeiten des beschleunigten Wandels das historische
Bewusstsein verloren geht...
Kommentare