Die Schweiz nach dem 9. Februar

Editorial zum Bulletin 2/2014 von Markus Zürcher

Das äusserst knappe Volksverdikt über die Masseneinwanderung stellt die Schweiz vor grösste Herausforderungen. Akzentuiert und markant treten die bekannten ökonomischen und soziokulturellen Verwerfungen hervor, die nicht zur Problemlösung beitragen und die Kohäsion des Landes belasten. Wie auch immer der gordische Knoten gelöst wird: Die Arbeitsimmigration muss über die nächsten Jahre deutlich gesenkt werden. Unter anderem erfordert dies eine Anpassung der Arbeits- und Bildungsorganisation an veränderte Lebensverhältnisse und -formen. Problematisch ist, dass die Protagonisten der Initiative genau die dafür notwendigen Massnahmen bekämpfen: Frühförderung, Tagesstrukturen, Bildungsinvestitionen und national einheitliche Anforderungen an das Bildungssystem. Diese Widersprüche, welche die politisch-ideologische Bearbeitung von Tradition und Moderne, Stadt und Land, Schweizer und Ausländer hinterlassen haben, müssen offensiv, klar und deutlich adressiert werden.

Nach dem 9. Februar hat von der Akademie bereits Geplantes an Aktualität und Dringlichkeit gewonnen: Entscheidend wird sein, ob es gelingt, mehr Frauen und Männern die Teilhabe am Arbeitsleben über den gesamten Lebensverlauf zu ermöglichen. Dies ist die Thematik von zwei Veranstaltungen, welche die SAGW in diesem Jahr gemeinsam mit dem Schweizerischen Arbeitgeberverband (SAV) und Pro Familia durchführt: Unter dem übergreifenden Titel «Rahmenbedingungen für zukunftsfähige Arbeitsmärkte» wird an der Tagung vom 5. Juni in Bern die Vereinbarkeit von Elternschaft und Erwerbsarbeit und am 13. November in Zürich die Arbeit im Lebensverlauf fokussiert. Das Dossier im 2/2014 Bulletin zeigt das breite Spektrum an notwendigen Anpassungen und Handlungsmöglichkeiten auf: Die von Brigitte Liebig zusammengefassten Ergebnisse aus dem Nationalen Forschungsprogramm «Gleichstellung der Geschlechter» (NFP 60) belegt die markanten Geschlechterdifferenzen in der Arbeitswelt. Die Kehrseite der hohen Teilzeitbeschäftigung von Frauen sind eingeschränkte Karrierechancen, segmentierte Arbeitsmärkte und damit verbundene Produktivitäts- und Wohlstandsverluste. Der ebenfalls im Rahmen des NFP 60 erstmals erstellte landesweite Überblick zur Versorgung mit familien- und schulergänzenden Betreuungsangeboten weist einen erheblichen Nachholbedarf aus. Den Anpassungsbedarf im Sozial- und Arbeitsrecht zeigen Thomas Gächter und Rémy Wyler auf, betriebliche Strategien zum Erhalt der Arbeitsmarktfähigkeit Günter Pfeiffer, François Höpflinger, Pascal Scheiwiller und Georg Bauer.

In zweifacher Hinsicht ist das Bildungssystem gefordert: Einerseits gilt es, das vorhandene Humanvermögen auszuschöpfen, indem unter anderem die im internationalen Vergleich ausgeprägte soziale Selektion in der Volksschule überwunden wird. Sehr wichtig ist auch, dass in der Weiterbildung informell erworbenes Wissen und Können anerkannt und lebenslanges Lernen und Nachholbildung gefördert und ermöglicht werden. Allein damit kann sichergestellt werden, dass breite Bevölkerungskreise hinreichend qualifiziert sind, es bleiben und so den steigenden und neuen Anforderungen des Arbeitsmarktes genügen können. Wie oben dargelegt, ist andererseits die Anpassung der Schulorganisation an veränderte Lebensverhältnisse und gesellschaftliche Erfordernisse dringlich. Rasch müssen insbesondere die in den meisten Regionen bestehenden Angebotslücken im Bereich der familien- und schulergänzenden Kinderbetreuung geschlossen werden. Wie auch aus dem Interview mit Bundesrat Schneider-Ammann im Bulletin hervorgeht, mangelt es dabei nicht an durchdachten Konzepten. Hingegen erschweren zersplitterte Kompetenzen und wenig geklärte Zuständigkeiten deren Umsetzung. Lebens- und Wohlstandschancen von Individuen wie ganzen Regionen hängen ganz entscheidend von einer kohärenten, alle Aspekte einschliessenden Entwicklung des Bildungssystems ab. Dies verspricht die im Jahre 2006 vom Stimmvolk verabschiedete neue Bildungsverfassung. Bislang deutet jedoch wenig darauf hin, dass dieses wichtige und nun dringlich gewordene Anliegen in nützlicher Frist umgesetzt werden kann. Deshalb fordern die Akademien der Wissenschaften Schweiz die zuständigen Behörden auf, eine nationale Bildungsstrategie zu erarbeiten.

Die im Jahre 2011 lancierten Arbeiten zu einer Neupositionierung der Geisteswissenschaften stehen im Zentrum der diesjährigen Jahresversammlung der Akademie: Mit dem Ziel, weitere Massnahmen auch mit Blick auf die Mehrjahresplanung 2017–2020 in die Wege zu leiten, wird nebst weiteren in diesem Kontext lancierten Initiativen der in diesen Tagen fertiggestellte Grundlagenbericht zur Entwicklung der Geisteswissenschaften in der Schweiz an der Jahresversammlung zur Diskussion gestellt. Schon jetzt bedanken wir uns bei den Fachgesellschaften für ihren bisherigen und künftigen Beitrag zur Neupositionierung der Geisteswissenschaften.

Kommentare