«Erneuerung der Geisteswissenschaften» – Die Debatte ist eröffnet


Editorial von Markus Zürcher für das SAGW- Bulletin 2/2013 zum Thema «Empfehlungen für die Geisteswissenschaften»

Wie im letzten Bulletin (1/13) berichtet, hat die Akademie im Dezember 2012 Empfehlungen und Handlungsoptionen für eine Erneuerung der Geisteswissenschaften im Bereich der Lehre, der Forschungsförderung sowie der Leistungs- und Qualitätsmessung publiziert. Gegenwärtig sind sie bei den Rektoraten, Prorektoraten, den zuständigen Dekanaten, dem Mittelbau sowie den Forschungsförderungsorganen in Konsultation. Deren Ergebnisse lagen bei Redaktionsschluss noch nicht vor. Im Hinblick auf die öffentliche Podiumsdiskussion am 24. Mai haben wir jedoch bereits sechzehn mit den Geisteswissenschaften in Lehre, Forschung und Vermittlung befasste persönlichkeiten um eine erste Stellungnahme gebeten. Die Debatte ist eröffnet. Die Reaktionen zeigen, dass sowohl Diskussions- als auch Klärungsbedarf besteht: Auf verhaltene Zustimmung bis Ablehnung stossen die Vorschläge im Bereich der Lehre. Bisweilen wird die geforderte, verstärkte Orientierung an der Praxis («grand challenges») als «entweder oder» und nicht im Sinne eines «Sowohl als auch» gelesen. Die Zweistufung des Studiums scheint nicht in einer befriedigenden Form zu gelingen. Nicht zu vergessen ist, dass das universitäre System diesbezüglich widersprüchliche Anreize setzt. Breite Unterstützung finden die Empfehlungen hingegen im Bereich der Forschung. Begrüsst wird insbesondere die Forderung nach besseren Karrieremöglichkeiten für den Nachwuchs. Auch die Schaffung von Zentren wird mehrheitlich als sinnvoll erachtet. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die für diesen Bereich von den Befragten unterbreiteten ergänzenden und weiterführenden Vorschläge. Sieben Beiträge zur Vermittlung und öffentlichen Wahrnehmung der Geisteswissenschaften schliessen das Dossier zum Positionspapier ab. Sie lassen deutlich werden, dass die zurückhaltend bis ablehnend aufgenommene Forderung nach einer verstärkten Auseinandersetzung mit dem «Nutzen» und der praktischen Relevanz der Geisteswissenschaften nicht umgangen werden kann. Deren Bedeutung wie Leistungen müssen dargelegt werden und dies erfordert Prägnanz und Geduld. Dies gilt auch für die Fortsetzung der nun angestossenen Debatte über eine Neupositionierung der Geisteswissenschaften in einem fundamental veränderten universitären und gesellschaftlichen Kontext.

Die Leistungs- und Qualitätsmessung haben wir nicht zur Diskussion gestellt. Die Entwicklung ist weit fortgeschritten, eine proaktive Haltung deshalb angezeigt: Es ist an den Fachgesellschaften, den Evaluationsstellen die Kriterien und Verfahren vorzuschlagen, nach denen sie bewertet werden wollen. Dies setzt eine Selbstverständigung voraus, was nicht zuletzt zur Stärkung der einzelnen Fachbereiche und der Geisteswissenschaften insgesamt beiträgt. Dasselbe gilt für die Stellung und Funktion des Lateins, die Gegenstand einer gut besuchten, kontrovers geführten Podiumsdiskussion war. In beiden Fällen sieht die SAGW vor, die Fachgesellschaften für ein wirksames Engagement zu gewinnen und sie dabei im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu unterstützen. Obwohl die Möglichkeit, sich vermehrt mit den «grand challenges» zu befassen, kontrovers eingeschätzt wird, laden wir Vertreterinnen und Vertreter aus allen geisteswissenschaftlichen Bereichen ein, ihre Kompetenzen wie ihr Wissen in den Schwerpunkt «Gesundheitssystem im Wandel» einzubringen. Nach umfassenden Vorarbeiten haben die Akademien der Wissenschaften Schweiz am Ende des letzten Jahres eine «Roadmap für ein nachhaltiges Gesundheitssystem» publiziert. Die vorgeschlagenen Massnahmen werden gegenwärtig mit allen «stakeholders» diskutiert. Unbestritten ist, dass deren Umsetzung geistes- und sozialwissenschaftliche Expertise erfordert. Die bis heute dominanten, auf die Identifikation von Krankheiten und den mit ihnen verbundenen Defiziten ausgerichteten Konzepte müssen teilweise korrigiert, mit Sicherheit ergänzt werden. Neue, auch zukunftsweisende Perspektiven erschliesst ein dynamischer Gesundheitsbegriff, welcher die Aufmerksamkeit auf den Erhalt und die Stabilisierung der  Gesundheit lenkt, die Alltagsbewältigung und die Lebensqualität ins Zentrum rückt. Seit ihren Anfängen mit der Frage nach dem «guten Leben» befasst, dürfen von den Geistes- und Sozialwissenschaften in dieser Sache massgebliche Beiträge erwartet werden.

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