Latein ist so viel Wert wie Französisch und eine weitere Fremdsprache zusammen


Am Dienstag, 12. Februar, führt die SAGW an der Universität Bern eine Abendveranstaltung zum Thema «Am Ende des Lateins?» durch. Dabei wird das Pro und das Contra des Lateinobligatoriums in den geisteswissenschaftlichen Studiengängen diskutiert.

Doch was spricht für das Latein in geisteswissenschaftlichen Studiengängen? Hier ein dezidiertes Pro für das Lateinobligatorium für Studierende der Germanistik:
  1. Latein ist für den deutschsprachigen Raum in historischer Perspektive keine Fremdsprache, sondern die Sprache unserer Überlieferung. Bis zur Mitte des 17.Jahrhunderts ist die Mehrzahl aller Publikationen im deutschsprachigen Raum auf Latein verfasst, bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ist Latein Wissenschaftssprache. In diesem Sinne ist Latein unverzichtbar für eine selbstständige Auseinandersetzung der Studierenden mit der Kulturgeschichte des deutschsprachigen Raums. Ähnlich gilt dies auch für andere Teile Westeuropas.
  2. Lateinische Texte sind Bezugstexte für deutsche Literatur seit rund 1200 Jahren bis in die Gegenwart, französische Texte seit rund 900 Jahren, spanische und englische seit höchstens 400 Jahren. Wenn die Studierenden also Rezeptionszusammenhänge erfassen wollen, ist Latein die beste Option, auch wenn Französisch, Spanisch, Englisch, Italienisch, Griechisch, Russisch, Arabisch, Tschechisch, Polnisch, Slowenisch, Persisch, Dänisch und Schwedisch ebenfalls hilfreich sind. Im Sinne einer Rechnung könnte man sagen, Latein ist so viel Wert wie Französisch und eine weitere Fremdsprache zusammen.
  3. Grammatikschreibung wird seit 2000 Jahren am Modell des Latein betrieben. Selbst heutige Grammatiken der deutschen Sprache tragen dieses Erbe mit sich. Zum einen ist es also sehr gut, wenn Studierende der Sprachwissenschaft Latein und Lateingrammatik beherrschen, weil sie nur dann die Kategorienbildung der Grammatikschreibung gut verstehen, zum anderen hat sich die germanistische Grammatikschreibung in den letzten Jahrzehnten bemüht, vom Modell Latein abzukommen und grammatische Kategorien zu entwerfen, welche der deutschen Sprache besser entsprechen. Zum Vergleich mit anderen Sprachen sind Konkurrenzmodelle entworfen worden wie etwa die Kategorien der generativen Grammatik. Obwohl heute also latein-unabhängiges Denken gefragt ist, können die traditionellen Kategorien wohl nur dann sinnvoll hinterfragt werden, wenn überhaupt das Verständnis da ist, wozu sie entwickelt worden sind, nämlich für die lateinische Sprache.
  4. Die Vorstellung, dass Deutsch eine vom Latein unabhängige Sprache ist, wäre auch pure Fiktion: Das jahrtausendlange Nebeneinander von lateinischer und deutscher Sprache hat eben auch dazu beigetragen, dass die Weiterentwicklung des Deutschen stark durch das Latein angeregt wurde. Das betrifft nicht nur den Wortschatz, sondern auch die Syntax: Während zum Beispiel im Mittelhochdeutschen sehr viele Nebensätze unterschiedlicher Funktion (wie im Schweizerdeutschen) mit „dass“ eingeleitet werden, hat das Frühneuhochdeutsche am Modell des lateinischen Nebensatz-Systems eine differenzierte Palette von Konjunktionen wie „damit“ und „sodass“ entwickelt. Ähnlich wie für die literarische Rezeption ist also auch für die Sprachgeschichte und die sprachsystematische Analyse des heutigen Deutschen die Kenntnis des Lateinischen unabdingbar.
  5. Es geht aber auch um handwerkliche Fähigkeiten: Studierende aller Wissenschaften müssen bei Studienbeginn eine solide Kompetenz in der grammatischen Analyse von Texten und in der adäquaten Übersetzung fremdsprachiger Texte mithilfe von Wörterbuch und Grammatik mitbringen, damit sie mit fremdsprachiger Literatur und fremdsprachiger Forschungsliteratur umgehen können. Traditionell wird beides im Lateinunterricht vermittelt. Diese Fertigkeiten könnten auch im Unterricht des Deutschen bzw. anderer Fremdsprachen geübt werden, dazu müssten deren Lehrpläne aber deutlich erweitert werden.
  6. Das ist auch ein wichtiger forschungspolitischer Punkt, geht es doch darum, dass Studierende und spätere Forschende nicht nur deutsche und englische Forschungsliteratur, sondern eine weltanschaulich und kulturell breite Palette von Forschungsresultaten wahrnehmen können. Ohne dies ist die eigentlich seit 1968 in den Geisteswissenschaften längst errungene Methodenvielfalt nicht viel Wert. In diesem Sinne wäre zu fordern, dass auch naturwissenschaftliche und technische Studiengänge eine dritte Fremdsprache neben Französisch und Englisch verlangen. Ein Wissenschafts-Pidgin reicht nicht; die Welt ist mehrsprachig und so eng verflochten, dass kulturell differenzierte Kommunikation nötig ist.
  7. Für bestimmte Fächergruppen ist Latein auch heute noch eine sinnvolle und differenzierte globale Wissenschaftssprache: etwa für Theologie, klassische Altertumskunde, die mediävistischen Fächer. Vgl. auch die lateinische Vicipaedia mit zur Zeit 85‘636 Einträgen, auf der Einstiegsseite z. Zt. tagesaktuelle Nachrichten aus den Niederlanden, Brasilien, Indien und Italien!
Sind Sie, liebe Leserinnen und Leser, mit diesen Voten einverstanden oder haben Sie Ergänzungen? Uns interessierts! 

Kommentare