Mehr Wissen über Wissensproduktion


Dr. Franca Siegfried Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften „Mit den Thesen des Wissenschaftstheoretikers Hans-Jörg Rheinberger vor Augen könnte man sogar sagen: Wir leben in einer Wissensgesellschaft, sind aber voll von falschen Vorstellungen davon, wie diese Gesellschaft funktioniert“, schreibt die NZZ (18.6.2018). „Wir leben in einer Gesellschaft, die Milliarden für Bildung und Forschung ausgibt, wissen aber nicht, wofür das Geld ausgegeben wird“. Hans-Jörg Rheinberger ist Honorarprofessor für Wissenschaftsgeschichte an der TU Berlin und analysiert seit Jahren das Treiben in Labors und das Denken an Schreibtischen in Universitäten. In seinem neuen Buch „Experimentalität“ publiziert der gebürtige Lichtensteiner Gespräche mit 19 Persönlichkeiten von Hochschulen und Wissenschaftsredaktionen aus Österreich, Deutschland, England, Spanien, aus den USA und der Schweiz. „Rheinbergers Ausführungen lassen sich als ein mit vornehmer Zurückhaltung formulierter Angriff auf das Forschungsmanagement der öffentlichen Wissenschaftsinstitutionen lesen, also der Hochschulen, Forschungsförderungsorganisationen und der Wissenschaftsverwaltung“, schreibt die NZZ. „Denn dort wird Forschung zunehmend programmatisch und projektförmig organisiert, auf dass sie richtig funktioniere und praxisrelevante Resultate liefere, zu den Themen, die gerade im Schwang sind.“

Das Masslose in der Wissenschaft
Forschung sei Anarchie – sie stürze die Menschen, die sie betreiben in Abenteuer. Sie führe zu Gutem wie zu Schlechtem, zu umwerfenden Techniken und ungehörigen Gedanken. Wissen sei nicht dazu da, uns zu trösten, zitiert Hans-Jörg Rheinberger den französischen Philosophen Michel Foucault. Mit Elfie Miklautz, Professorin für Soziologie der Wirtschaftsuniversität Wien diskutiert Rheinberger auch über die Neugierde. Grundsätzlich müsse man sich fragen, ob es so etwas wie freieschwebende Neugier gäbe (Seite 248). „Die Wissenschaft ruht auf einem Komplex von bereits akkumuliertem Wissen, das man nicht einfach beiseiteschieben kann, auch nicht beiseiteschieben soll.“ Es gehe eher darum, sich nicht völlig vereinnahmen zu lassen. Und er definiert Neugierde als etwas Massloses im doppelten Sinn, da wäre einerseits die Gier, und hinzu kommt noch das Neue – das Masslose ist also auch etwas Unvermessenes. Rheinberger bringt Aspekte auf den Tisch, etwa, dass für ihn als Wissenschaftshistoriker die Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaft nicht überall Sinn macht (Seite 182). Seine Disziplin, die Wissenschaftsgeschichte, sei so etwas wie ein Ferment, um über die Wissenschaft nachzudenken. Bei der Reflexion sei es jedoch wichtig, weder die Natur- noch die Geisteswissenschaft auszublenden. „Es geht nicht ohne beide Momente. Beide Grossbereiche sind somit präsent, Natur- sowie Geisteswissenschaften, und das, finde ich, ist das Spannende – es schafft Reibungspotentiale im Sinn produktiver Energien.“ Dort wo Unsicherheiten entstehen, wo Selbstvergewisserungsvorgänge eine Rolle spielen, gebe es immer auch Potentiale zur Neuerung. „An dem, was wir Krise nennen, ist nicht das Negative, sondern die Chance interessant“ (Seite 184).

Aufbruch ins Ungewisse
„Abenteuer mit Langzeitwirkung“, lautet ein Titel (Seite 12) im aktuellen Forschungsmagazin GLOBE der ETH Zürich (2/2018). „Sich forschend auf unbekanntes Terrain zu begeben, ist ein Unterfangen mit offenem Ausgang. Forschende, die ihrem Entdeckergeist folgen, können irren – oder sie schaffen Grundlagen, die Wege in die Zukunft eröffnen. Manchmal gelingt es erst nachfolgenden Generationen, diese Wege fruchtbar zu machen“, schreibt GLOBE. Albert Einstein mit der theoretischen Erklärung des photoelektrischen Effekts (1905) wird als Vorzeigemann im Magazin abgebildet: Wer die Biografie des theoretischen Physikers gelesen hat, der weiss, welch abenteuerliche Umwege Einstein einschlagen musste, etwa als Hauslehrer oder technischer Experte im Patentamt Bern. Vergessen sind die Absagen für eine Assistentenstelle des damaligen Polytechnikums. Der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger betont im Gespräch mit der Soziologin Elfie Miklautz in „Experimentalität“ (Seite 251): „Um eine Wissenschaft zu betreiben, braucht es ein gewisses Moment an Überschiessbereitschaft, es soll ja über das Bestehende hinausgegangen werden. So verstehe ich jedenfalls wissenschaftliches Arbeiten, sofern es mit Forschung verknüpft ist. Es ist mit Unsicherheiten behaftet, weil man in der Regel das Ziel nicht genau angeben kann.“

Wissensproduktion
„Das wissenschaftliche Wissen hat das religiöse Wissen, das Naturwissen und das Wissen der Vorfahren verdrängt. Der wichtigste Ort der Wissensproduktion sind die Hochschulen. Hier erwerben Tausende junger Frauen und Männer die Fähigkeit, mit neuem Wissen umzugehen und es hervorzubringen. Oder sie erwerben zumindest ein Papier, das ihnen den Besitz dieser Fähigkeiten bescheinigt“ sagt Hans-Jörg Rheinberger. „Wir leben in der Wissensgesellschaft, aber ahnungslos. Wir wissen nur wenig über die Technik, die unseren Alltag durchdringt – jedes Kind kann ein Smartphone bedienen, aber niemand kann erklären, wie es funktioniert. Wir wissen nichts über die unbewussten Mechanismen der Kommunikation, die am Werk sind, wenn wir uns mit anderen unterhalten. Und wir wissen vor allem nichts darüber, wie das Wissen entsteht.“







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