Wie effizient ist Bildung...


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Dr. Franca Siegfried Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften 
Eine empirische Studie aus der Bildungsforschung, die zum Klassiker avancierte, stammt aus den 1960er-Jahren – „der Coleman-Report“. Das US-Department of Education bestellte damals eine Studie über Bildungsungleichheit von schwarzen Kindern bei James S. Coleman. Der Soziologe befragte 632'000 Schüler von 4000 Schulen. Seine Erkenntnisse? Die Ausstattung von Schulen beeinflussen kaum oder nur marginal die Lernleistungen schwarzer Kinder. Coleman fand allerdings andere Faktoren, die den Lernerfolg bestimmen – etwa die Bildung der Eltern, die Zahl der Geschwister oder die wirtschaftliche Situation der Familie. Colemans Fazit passte jedoch den US-Bildungspolitikern nicht in den Kram. Sie wollten den geringen Ausstattungseffekt nicht anerkennen, da sie sich mit der Durchsetzung der Bürgerrechte für Schwarze bezüglich der Bildungsgleichheit eine simple Lösung vorstellten: Dass mit einem Sack voller Dollars bzw. der Verbesserung der Ausstattung an Schulen für schwarze Kinder die Ungleichheit in den USA vom Tisch wäre (vgl. Andreas Dieckmann, Empirische Sozialforschung, Seite 41-46). http://www.rowohlt-theaterverlag.de/fm90/131/Diekmann_Empirische.pdf

Bildungspolitische Fragen der Schweiz
Soeben wurde der Bildungsbericht Schweiz 2018 auf 330 Seiten mit mehr als 500 bildungspolitischen Fragestellungen publiziert. Er ist zugleich ein Rückblick auf acht Jahre Bildungsberichterstattung und präsentiert die Schweizer Bildungslandschaft in einer hohen Detailgenauigkeit. „Das Team um den Berner Bildungsökonomen Stefan Wolter hat im Auftrag des Bundes und der Kantone hunderte Statistiken und Studien verarbeitet“, schreibt die NZZ (19.6.2018). „Daraus ergibt sich ein detaillierter Überblick über den derzeitigen Stand des Bildungswesens und über noch vorhandene Wissenslücken. Der Bildungsbericht ist vor allem ein Arbeitsinstrument für Bildungsfachleute und -politiker, lässt aber auch generelle Aussagen zu.“ Die zentrale Aussage ist gemäss NZZ: „Das Bildungsniveau in der Schweiz steigt, gemessen in Abschlüssen, laufend an.“ Wer sich den Bericht genauer ansieht, findet jedoch überraschendere Fakten und Aussagen.

Kosten-Wirksamkeits-Analyse
„Effektivität“, „Effizenz“ und „Equity“, das sind die drei Schlüsselwörter der Berner Bildungsforscher im Bericht. Mit der Effektivität wird der sogenannte Zielerreichungsgrad der bildungspolitisch festgelegten Bildungsziele analysiert. Mit der Effizienz werden monetäre aber auch nichtmonetäre Ressourcen bestimmt, etwa die Zeit im Verhältnis zur Leistung des Bildungstypes – kurzum es ist eine gefällige Kosten-Nutzen-Relation aus dem Fachbereich der Ökonomen. Und in Unterkapiteln zur Equity gehen die Forschenden zum Kern der Sache bzw. der Frage nach, wie die Bildungsleistung von der Herkunft und vom Geschlecht beeinflusst werden. Der gedruckte Bericht kostet 60, die Online-Version 39 Franken: https://shop.skbf-csre.ch/de/ 

Neue Zahlen – neue Denkmuster
Im Kapitel Universitäre Hochschulen ist die Effektivität ein wichtiger Schwerpunkt, zumal der Arbeitsmarkterfolg für die Bewertung der Hochschulausbildung als zentral erachtet wird. Gemäss der Absolventenbefragung von 2015 sind ein Jahr nach dem Studienabschluss 88 Prozent erwerbstätig. 91 Prozent von ihnen hat eine adäquate Beschäftigung gefunden, die ihren Qualifikationen entspricht. In einer Grafik (Seite 214) ist die Arbeitsmarktsituation bzw. der Anteil der Erwerbstätigen mit einer adäquaten Beschäftigung aufgezeichnet: Zwischen den Fachbereichen gibt es deutliche Unterschiede. Und es sind nicht etwa die Geistes- und Sozialwissenschaften, die als Schlusslicht blinken, so wie es gewisse bildungspolitische Parolen immer noch zementieren wollen: Die knappen Verlierer in der Bildungslandschaft sind die Naturwissenschaften – Gewinner die Pharmazie. Historische- und Kulturwissenschaften geben sich ein Kopf an Kopf Rennen, wohlverstanden hinter den Sozial- und Sprach- wie auch Literaturwissenschaften. Es ist unbestritten, dass dieser Bildungsbericht frischen Wind in verkrustete Denkmuster bringen kann.

Hinter den Zahlen
Interessant sind die Unterkapitel „Equity“ des Bildungsberichtes: So werden beispielsweise im Kapitel Gymnasium die primären Effekte von Bildungsdisparitäten bzw. herkunfts- und geschlechtsbezogener Ungleichheiten in den Bildungsabschlüssen besprochen. In Grafiken wird veranschaulicht, dass rund doppelt so viele Kinder mit sehr hohen Leistungen, die im 11. Schuljahr ins Gymnasium übertreten wollen, aus privilegiertem Haus stammen. Sozusagen hat sich diese Erkenntnis seit dem Coleman-Report der 1960er-Jahren nicht wesentlich verändert. Und im Unterschied zu Coleman wurde die Datenverarbeitung im Zeitalter der Digitalisierung mit Big-Data revolutioniert – es gibt heute Statistiken ohne Ende – in der Interpretation liegt jedoch noch ein riesiges Potential bzw. eine grosse Unbekannte. Die Berner Bildungsforscher beschreiben im Bericht korrekterweise auch den sekundären Effekt, indem leistungsschwächere SchülerInnen aus privilegiertem Haus zulasten der leistungsstärkeren Kinder aus benachteiligten Haushalten die begrenzten Plätze an Gymnasien beanspruchen. Im Bildungsbericht (Seite 159) steht: „Eine solche Konkurrenz ist allerdings schwer zu belegen, da eine Entscheidung für oder gegen das Gymnasium auch von den individuellen Bildungspräferenzen der Eltern oder Schülerinnen und Schüler selbst abhängen kann.“ Die empirische Relevanz könnte durchaus noch mit theoretischen Erklärungsansätzen für Bildungsdisparitäten ergänzt werden – ein Klassiker wäre zum Beispiel die Theorie von Pierre Bourdieu. Bourdieu unterteilte das akkumulierte Kapital von Familien in drei Kapitalarten: das soziale, ökonomische und kulturelle Kapital. Schüler aus benachteiligten Familien werden wegen ihrer defizitären Kapitalausstattung benachteiligt. In ökonomischer Sprache ausgedrückt – aus familialen Ressourcen ergeben sich für Kinder Bildungsdisparitäten bei einer sogenannten Unterinvestition der Eltern in Sozialisation, Erziehung und Vorbereitung auf die Schule.

Fachliche Kompetenzen statt Ellbögeln
„Unser Bildungssystem hat in der Mädchen- und Frauenförderung einen blinden Fleck“, titelt der Tages-Anzeiger-Online (19.6.2018). „Manchmal fördert Forschung unangenehme Zusammenhänge zutage. Dieser gehört mit Sicherheit dazu: Mädchen suchen den Wettbewerb weniger offensiv als Knaben. Darum fehlen Frauen später in gut bezahlten Berufen und auf der Führungsetage. Es kommt noch schlimmer: Je talentierter, desto deutlicher ist der Unterschied zwischen den Geschlechtern, zeigt eine aktuelle Schweizer Forschungsarbeit. Knaben mit guten Noten wollen es erst recht wissen, während Mädchen mit guten Noten sogar weniger risikofreudig sind als weniger begabte.“ Am nächsten Tag steht es gross auf der Front des Tages-Anzeigers (Printausgabe): „Junge Frauen meiden Wettbewerb in Schule und Beruf – Erkenntnisse im Bildungsbericht stellen die Strategie des Bundes zur Förderung von Mädchen in Frage.“ Was sich medial zusammenbraut wird im Interview mit Sylvie Durrer, Direktorin des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann, relativiert (Seite 5): „Wir sollten aufhören, Wettbewerb als männlich zu definieren. Mädchen sind sehr wohl ambitioniert, aber für sie ist eben auch Kooperation wichtig“, sagt Sylvie Durrer. Sie erwähnt positive Beispiele aus der Medizin, die beweisen sollen, dass sich Frauen dem Wettbewerb stellen sobald es um fachliche Kompetenzen gehe – und nicht ums „Ellbögeln“.


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