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Dr. Franca Siegfried Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften
Wo sind die Philosophen, wenn man sie braucht, beklagt sich
Geert Keil. Seine Kritik ist nicht aus der Luft gegriffen, er selber lehrt
Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin. Mit dem Zitat von Hegel,
Philosophen würden ihre Zeit in Gedanken erfassen, bedauert er die fehlende öffentliche
Wahrnehmung seiner Disziplin. „Die globalen Herausforderungen, Fehlentwicklungen
und Krisenherde lassen sich kaum noch aufzählen, die Zeit scheint aus den Fugen“,
schreibt der Deutsche Professor in der Zeitschrift „Information Philosophie“
(01/2017). „Zu allem Überfluss haben in der politischen Arena die terribles simplificateurs
einen fast unheimlichen Zulauf. In Gedanken zu erfassen gäbe es vieles, doch
die akademische Philosophie zieht sich, so die Klage, in ein selbstgewähltes
Ghetto zurück, nämlich auf die kleinteilige Bearbeitung von Problemen, die ausser
anderen Fachphilosophen niemanden interessieren.“ Das Tätigkeitsprofil der Philosophie
ist wie geschaffen, in gesellschaftliche Debatten einzugreifen und
Krisenphänomene aufzuklären. Umso trauriger ist der Tatbestand, dass die Stimme
der Philosophie in der Öffentlichkeit kaum vermisst wird. Ebenso existiert
keine breit angelegte Debatte über das Verhältnis von Philosophie und
Öffentlichkeit.
Das Berner Vorbild
Was Professor Keil in der Zeitschrift „Information
Philosophie“ beklagt, hat vor 20 Jahren an der Universität Bern, den heute
emeritierten Professor Gerhard Seel motiviert, eine Plattform im Internet zu
lancieren. Gerhard Seel lehrte in Bern Semantik, praktische Philosophie,
Rechts- und Wirtschaftsphilosophie. Seine Plattform Philosophie.ch entwickelte
sich im Laufe der Zeit zu einer nationalen Anlaufstelle für Philosophie, die in
ihrer Zielsetzung, ihrem Umfang und ihrem Erfolg in der Schweiz, aber auch in
Europa einzigartig ist. Seit 2008 koordiniert Philosophie.ch auch die Werbung für
zukünftige Studierende der philosophischen Institute im Land. Im gleichen Jahr
wurde der Verein „Philosophie.ch – Swiss Portal for Philosophy“ gegründet. Der
Verein engagiert sich besonders auch für einen philosophischen Diskurs in der breiten
Öffentlichkeit.
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Philosophie im
Zeitgeschehen
Seit dem 1. Mai, ist das Themendossier "Philosophie
aktuell" auf der Plattform Philosophie.ch aufgeschaltet: Muss Philosophie
in der Öffentlichkeit stattfinden? Steckt in ihr die Chance, eine friedliche
Auseinandersetzung in unserer pluralistischen Gesellschaft zu führen, fragt sich
die Autorin Anja Leser. Sie ist Vorstandsmitglied und zugleich in der
Geschäftsführung des Vereins. „Die Aufgabe der Philosophie besteht nicht darin,
den moralischen Zeigefinger zu erheben und vorzugeben, was man tun soll und was
nicht. Vielmehr zeigt die Philosophie unterschiedliche Argumente auf, weshalb
die eine oder andere Haltung vertretbar oder aus gewissen Gründen
gegebenenfalls vertretbarer ist als eine andere.“ Mit dem philosophischen
Themendossier will Philosophie.ch aufzeigen, wie sich die akademische
Philosophie gegen oberflächliche Auseinandersetzungen von gesellschaftlich und
zukunftsrelevanten Themen wehrt. Es lohne sich auch, den Mut aufzubringen, sich
intensiv mit persönlichen Werturteilen auseinanderzusetzen. „Philosophie kann
„ansteckend“ sein und viel Freude hervorrufen: Gerade dann, wenn man neue Ideen
mit dazu gewinnt, oder andere Argumente für bereits gefasste Entscheidungen
kennenlernt. Die Philosophie entwickelt sich fortlaufend weiter und bleibt somit
mehr denn je: stets aktuell“, schreibt Anja Leser. https://www.philosophie.ch/philosophie/themendossiers/td25
Philosophie in der Digitalisierung
Auf der Plattform sind nicht nur Essays und Blogs nachzulesen,
auch welche Themenbereiche an einzelnen Hochschulen vertieft werden, oder
welche Veranstaltungen wann und wo stattfinden in der Schweiz. Philosophie.ch
bietet eine Art Rundumpaket auch für angehende Studierende und Forschende.
Empfehlungen für Studierende, beispielsweise wie sie philosophische Texte
schreiben können. Zumal Schreiben wichtig ist für ein erfolgreiches
Philosophiestudium – wie argumentative Texte entstehen, wie mithilfe des
Schreibens philosophische Probleme verstanden, durchdrungen und geklärt werden
können. Mit dieser Argumentation kann im Zeitalter der Digitalisierung die
Disziplin Philosophie nur noch gewinnen und an Aufmerksamkeit zulegen. Langer
Rede kurzer Sinn, die Netzöffentlichkeit ist eine riesige Chance für flüssig
schreibende Philosophen, etwa mit Bloggs ein junges und breites Publikum zu
erreichen und zu begeistern.
Medientauglichkeit und
Ratgeberliteratur
Fachphilosophen, die ihre Gedanken in einem öffentlichen
Diskurs in den Medien preisgeben, sind jedoch eher selten. Einfacher ist es für
die Intellektuellen, Fachliteratur zu schreiben. Sie haben damit auch den
Vorteil, dass sie nicht die Kompliziertheitszensur der Medien bestehen müssen.
Es gibt allerdings auch Fachphilosophen, die sich an populärwissenschaftliche
Bücher wagen. Ihre Werke stehen in den Buchhandlungen in der Abteilung für
Ratgeberliteratur. Ein gutes Beispiel ist das neue Buch von Christoph Quarch
mit dem Titel „Nicht Denken ist auch keine Lösung – Wie Sie gute Entscheidungen
treffen“. Der Autor schreibt eine Philosophie des Entscheidens: „Warum sollen
wir tun, was wir können, obgleich wir es müssen?“ Entscheidungen verbinden
Getrenntes, schliessen Klüfte und erzeugen Stimmigkeit oder Einklang – oder
beides. Gute Entscheidungen sind Früchte der freien Kreativität des Menschen
bzw. auch seiner Seele. Stimmige Entscheidungen lassen sich auch nicht mit der
technischen Strategie des Ichs vergleichen. Und! Gute Entscheidungen sind
unberechenbar, auch nicht planbar – sie folgen allein dem Imperativ „Erkenne
dich selbst“... Ein anspruchsvolles Thema, das auf 200 Seiten mit einer guten
Leserführung ausführlich behandelt wird. Auf das gelungene Beispiel dieser Popularphilosophie
wird auch auf der Plattform Philosophie.ch hingewiesen. Man kann sich nur
wünschen, dass das Beispiel des Vereins „Philosophie.ch – Swiss Portal for
Philosophy“ Schule macht und die noch schweigenden Philosophen aus ihrem
Elfenbeinturm lockt.
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