Sündenbock Wilhelm Humboldt

 Dr. Franca Siegfried Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften
„Als unabhängiger Think Tank entwickelt Avenir Suisse Ideen für die Zukunft der Schweiz, basierend auf wissenschaftlichen Studien und liberalen Prinzipien, inspiriert von der Marktwirtschaft. “So steht es auf der homepage. Der Direktor, zwei Autoren und eine wissenschaftliche Mitarbeiterin haben letzte Woche eine Studie mit dem Titel „Exzellenz statt Regionalpolitik im Hochschulraum Schweiz“ publiziert. Auf 100 Seiten beschreibt die Denkfabrik ein 10-Punkte-Programm für wettbewerbsfähige Hochschulen. Avenir Suisse enttäuscht dieses Mal: Gefordert wird „more of the same“ und der Aufguss von Bekanntem (Exzellenz, Clusters, Wettbewerb) hinterlässt eine Ratlosigkeit.

Mehr Geist – weniger Kantönli
Die NZZ beschreibt die Studie auch als Fitnessprogramm. Die Schweizer Hochschulen würden sich verzetteln, in die Breite wachsen und die Qualität aus den Augen verlieren, lautet auch die Diagnose von Avenir Suisse. Sportlich locker gibt sich die Denkfabrik mit dem Spruch „Nicht jedem Täli sein Vorlesungssäli“. Im Bildungssystem habe sich in den letzten 20 Jahren eine Art „Service Public“ entwickelt, besonders betroffen sei die Ausbreitung der Fachhochschulen. Es drohe eine Nivellierung und eine Abnahme der Qualität – verursacht durch Doppelspurigkeit und regionale Ansprüche. Eine Verzettelung anstelle von Exzellenz sei vorprogrammiert. Zugleich und im Widerspruch wird unter dem Titel „Exzellenzcluster“ (Seite 87) die hohe Bedeutung einer engen Zusammenarbeit mit Unternehmen hervorgehoben. Aber gerade die breite Präsenz von Hochschulen hat massgeblich zur wirtschaftlichen Entwicklung zahlreicher Regionen beigetragen. Hochschulen bieten zweifellos einen Standortvorteil für die Ansiedlung neuer Firmen und nicht zuletzt auch die vielen Start-ups, die zur Innovation der Schweiz beitragen.

Reformbremse Humboldt
Die Anpassung der Universitäten an den Arbeitsmarkt liegt den Ökonomen der Denkfabrik besonders am Herzen: Die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer würden die Nachfrage von Unternehmen mangelhaft befriedigen können, da bei den Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften eine wahre Invasion stattgefunden habe. Das Fächerangebot in der Schweiz sei „das Ergebnis verzerrter und oft unmotivierter Studienwahlentscheide sowie politischer Vorgaben“. Studien und Statistiken über den Fachkräftemangel zeigen jedoch, dass in allen Bereichen, nicht nur im Mint-Bereich, zu wenig hochqualifizierte Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt sind. Ebenfalls spiegelt die Geringschätzung der individuellen Präferenzen keine liberale Position. Ferner ist der aktuelle Bericht des Arbeitsmarktes kein guter Richtwert, wie dies Lord Ralf Dahrendorf schon vor Jahrzehnten moniert hat: Zwei Drittel der neu ausgebildeten Personen werden in einem Beruf arbeiten, den es heute noch gar nicht gibt.
Gemäss Avenir Suisse erschwere die Verflechtung von Bund und Kanton die Bildung einer Wettbewerbskultur zwischen den Hochschulen. Bekanntlich ist der Wettbewerb das Hausmittel der Ökonomen, das jetzt auch für eine gesunde und finanzierbare Hochschullandschaft herhalten muss. Die Politik soll sich in Zukunft in den Hochschulgremien verabschieden und die Autonomie der Hochschulen respektieren. Avenir Suisse hat jedoch noch einen weiteren Sündenbock gefunden. „Humboldtsches Ideal als Hemmschuh der Hochschulentwicklung,“ schreiben die Autoren (Seite 20). Das Ideal fordert eine Einheit zwischen Forschung und Lehre, was mit der Zunahme der Studierenden nicht möglich sei. „Exzellenter Unterricht muss nicht in jedem Fall durch eigene Forschung gestützt, sondern kann auch anders sichergestellt werden.“ Was die Denkfabrik ignoriert, dass die Vision Humboldts eine erstaunliche Aktualität besitzt. Ihm ging es nicht um das Vermitteln von Stoff, sondern um das Aufzeigen eines Denkprozesses, welcher zu neuen Einsichten und Ideen führt. Kurzum, Humboldt verlangte schon damals Bildung statt Wissensvermittlung, zumal heute auch die meisten Fakten gegoogelt werden können.

Exzellenzcluster
Was einst „sehr gut“ war, muss heute „exzellent“ sein. Das verlangen auch die Autoren von der Hochschullandschaft Schweiz: Sie haben eine idealtypische Hochschulkarte gezeichnet mit dem Fokus auf eine internationale Ausrichtung im globalen Wettbewerb. Der optimale Einsatz von Ressourcen verlangt Schwerpunkte mit sogenannten Exzellenzclustern. Forschungsinstitutionen mit Unternehmen desselben Sektors verbinden sich mit Wertschöpfungsketten bzw. die akademische nähert sich der ökonomischen Welt an. Die Politik solle sich nur noch auf Rahmenbedingungen konzentrieren und die Steuerung den Universitäts- und Institutsleitungen überlassen. Diese wüssten am besten, wo ihre jeweiligen Stärken liegen. In der idealtypischen Karte sind sieben Exzellenzclustern eingezeichnet. Unlängst hat Avenir Suisse vorgeschlagen, Gebirgs- wie auch Randregionen sich selber zu überlassen. Dazu würde also auch der Kanton Graubünden gehören; nächster Schritt wäre gemäss „Exzellenzcluster“ ihre Fachhochschule auf eine Disziplin zu reduzieren – Tourismus. Offensichtlich sieht die Denkfabrik die Zukunft der Schweiz unter einer Hochnebeldecke im Mittellandtrog. Im Mittelland und auch in der Westschweiz formiert sich ein eigentlicher Brain-Hotspot. Einige Kantone müssen ohne Geist auskommen, etwa das Wallis (Seite 87). Was genau hinter diesen sieben Exzellenzcluster steht, wird nicht begründet. Offensichtlich ist, dass aus dem Nichts eine Planwirtschaft kreiert wird. Mit der Exzellenz wird auch ein alter Socken aus der Deutschen Wissenspolitik hervorgezogen. Das beeindruckende Resultat der deutschen Initiative wurde damals zur Posse: In Deutschland waren einfach ALLE exzellent.

Nah am Markt
Zwar verlange Avenir Suisse nicht eine Senkung der öffentlichen Beiträge, schreibt der Tages-Anzeiger. „Doch sollen vor allem Bundesgelder nicht mehr so üppig als Basisbeiträge fliessen, sondern den Wettbewerb beleben, indem sie an Forschungsprogramme und Projekte gekoppelt werden. Wer Geld will, muss sich also darum bemühen und eine Jury überzeugen. Damit wird es für Hochschulen attraktiver, erfolgreiche, international vernetzte Akademiker anzulocken.“ In den SBFI News vom Dezember 17 / Januar 18 zeigt ein Balkendiagramm von 2007 bis 2016 den massiven Anstieg von kompetitiven Projektfinanzierungen (Seite 15). Die Folge ist, dass Forschende primär mit Schreiben von Gutachten und Anträgen beschäftigt sind. Zudem ist jedes Projekt mit Laufzeiten limitiert. Oft reicht die vorgegebene Laufzeit nicht für ein umfassendes Projekt, was  bedeutet, dass ein Projekt segmentiert wird – eine Art Salamitaktik, die noch nach mehr Administration verlangt. Avenir Suisse schlägt auch vor, dass sich die Hochschulen um Geld aus der Privatwirtschaft bemühen müssen. Die Gefahr, dass damit die Unabhängigkeit der Forschung gefährdet wird, soll mit einem Code of Conduct entschärft werden. Mit dieser Forderung ist Humboldts Vision in der Studie gestorben: Die universitäre Bildung sollte einst keine berufsbezogene, sondern eine von wirtschaftlichen Interessen unabhängige Bildung sein. Das Durcharbeiten der 87 Seiten könnte sogar einem Homo oeconomicus den Sinn für Rationalität rauben. Als Fazit zur Studie würde Mark Twains Aphorismus passen – Sobald dein einziges Werkzeug ein Hammer ist, wirst du jedes Problem als Nagel betrachten.
Weit weg von Wilhelms Weltenbürger
Und wer noch exzellente 34,25 Minuten mit dem lifestream der Medienkonferenz von Avenir Suisse erleben möchte (siehe Link). Die Eröffnung der Konferenz darf die wissenschaftlichen Mitarbeiterin halten. Sobald es jedoch um Fakten und zur Sache geht, dann ergreifen die drei Herren das Wort und die Frau verschwindet im Hintergrund. Zurück zu Humboldts-Bildungsideal: Universitäten bevölkerten einst autonome Individuen und Weltbürger, die sich mit den grossen Fragen der Menschheit auseinandersetzen – Frieden, Gerechtigkeit, Kulturen und auch mit der Frage zum Geschlechterverhältnis...

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