Warum die Übergriffsdebatte im Nationalrat zur Agenda 2030 passt

Dr. Franca Siegfried Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften
Die Intimisierung des Öffentlichen manifestiert sich mit der Zunahme von Softnews, Homestories, Personalisierung und Skandalisierung, die sich über Online-Newssites und Social Networks verbreiten. Darüber hat der Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich im Oktober eine NFP-Studie publiziert. In seinem Abstract schreibt Patrik Ettinger über moralisch-emotionale Weltbezüge: „(..) durch eine Komplexitätsreduktion, in der die Welt mittels moralisch-emotionaler Stereotypen und binären Urteilen (like/dislike; gut/schlecht; cool/uncool; Täter/Opfer) mit hoher Durchsatzgeschwindigkeit codiert werden kann.“ Ettinger beobachtet eine „qualitätsniedrige moralisch-emotionale Newsvermittlung“, die sich über den herkömmlichen Boulevard hinaus zum Mainstream entwickelt und Stoff für Social Networks liefert.

Politische Inszenierung
„Auf dem falschen Fuss erwischt“ titelt der Tages-Anzeiger (11.12.2017). Private Fehltritte von Politikern würden tagelang die Schlagzeilen beherrschen: „Auf seinem Twitter-Profil bezeichnet sich Yannick Buttet als „père de famille heureux“, glücklicher Familienvater. Erst dann folgt der Verweis auf seine politischen Ämter: CVP-Nationalrat und Gemeindepräsident von Collombey-Muraz VS; beide hat er vorübergehend niedergelegt, seit die Stalkingvorwürfe gegen ihn öffentlich wurden“, schreibt der Tages-Anzeiger. Die NFP-Studie erklärt, warum persönliche Angelegenheiten öffentlicher Personen immer wichtiger werden: Politiker geben Privates preis, um ihre Aussenwirkung zu steuern. Das Risiko einer Skandalisierung wird dabei in Kauf genommen. Und mit einer öffentlichen Abbitte in den Medien kann eine Skandalisierung zum Schlusspunkt gebracht werden. „Wie Geri Müller und Christophe Darbellay hat sich auch Yannick Buttet reumütig für seinen Fehltritt entschuldigt – mit welchem Erfolg, wird sich zeigen“, schreibt der Tages-Anzeiger. Für die Orchestrierung eines Skandalisierungsfinale haben Kommunikationsberater ein neues Businessmodell erfunden.

Die Welt als Bühne
Ob sich eine Skandalisierung im Social Network gemäss NFP-Studie als „qualitätsniedrige moralisch-emotionale Newsvermittlung“ charakterisieren lässt – diese Ansicht verlangt nach weiteren Überlegungen. Interessant wäre etwa die Einschätzung von Erving Goffman: Der 1989 verstorbene Soziologe benutzte das Theater als Modell für die soziale Welt. Gemäss Goffman ist das Alltagsleben so organisiert, dass nicht nur die Schauspieler selber, sondern auch die Zuschauer Rollen im Stück verkörpern. Bei den Politikern zum Beispiel ist der Partei-Auftritt eine Bühne. Im digitalen Zeitalter haben sie auch das Twittern zu ihrer Bühne aufgebaut. Dort übernimmt Buttet die väterliche Rolle mit „père de famille heureux“. Damit vermischt er das Private und Öffentliche mit der Absicht, sein Publikum emotional zu berühren. Politiker Buttet weiss sehr wohl, dass Kinder und Tiere den höchsten Nachrichtenwert besitzen.

Die Macht der Hinterbühne
Wenn da, nicht nach Erving Goffmann, die Hinterbühne wäre! Darauf führt die Classe Politique ihre informellen Gespräche. Zur Hinterbühne gehört ebenfalls das Private, das Intime, Geheime und Verborgene der PolitikerInnen. Mit der Digitalisierung lassen sich jedoch innert Sekunden Gerüchte, Fakten und Tatsachen aus dem Dunst der Hinterbühne verbreiten. Beispiel CVP-Politiker, der vor dem Haus der Geliebten als Stalker von der Polizei abgeholt wird. Besonders tragisch für das Opfer, aber auch folgenschwer für den Politiker, da er als öffentliche Person auf der Vorderbühne die Rolle des Saubermanns spielt. Mit den sozialen Netzwerken gibt es nicht nur eine, sondern viele neue, unberechenbare Öffentlichkeiten, die kein Zeitungsverleger, kein PR-Berater und auch kein Anwalt im Griff hat. Die Digitalisierung katapultiert uns nicht nur in eine technologische, sondern auch in eine gesellschaftliche Revolution und verlangt nach neuen Bearbeitungen von „alten“ Themen – beispielsweise der Geschlechterfrage.

Sexismus, verbale Gewalt und SDGs
Die aktuelle Übergriffsdebatte der Nationalrätinnen, ausgelöst durch den Fall Buttet, passt in die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (SDGs). Diese Agenda ist ein Orientierungsrahmen für unser Land in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit mit den Vereinten Nationen UNO. Die Agenda wird mit 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) gestützt. Im Zeitraum 2017 bis 20 konzentriert sich die Schweiz auf sieben Ziele: Dazu gehört die Stärkung der Geschlechtergleichstellung und der Rechte von Frauen und Mädchen. Die Übergriffsdebatte, die sich im Bundeshaus abspielt, behandelt nebst Sexismus auch die verbale Gewalt zwischen Frau und Mann – einschüchtern, demütigen, verspotten und verachten. Die Classe Politique hat noch viel zu lernen!
Auch die SAGW hat die Aktualität des Themas erfasst und organisiert deshalb am 15. Februar 2018 an der Universität Fribourg eine Tagung „Gewalt gegen Frauen in der Schweiz – von hier aus, wohin?“ am 15. Februar 2018 an der Universität Fribourg. Studien und Statistiken zeigen, dass Gewalt gegen Frauen in unserem Land zur Realität gehört, zumal die Dunkelziffer hoch ist. Somit fokussiert die Tagung auf die Beseitigung aller Formen von Gewalt und schädlichen Praktiken gegen Frauen und Mädchen im öffentlichen und im privaten Bereich. Die Tagung steht im Rahmen der Agenda 2030 mit den SDGs bzw. Ziel Nummer 5: Geschlechtergleichstellung.

SDGs viral im Netz
Dank der SDGs in Action App werden sich die nachhaltigen Ziele auch über Social Networks verbreiten. Damit soll verhindert werden, dass die Sustainable Development Goals, die weltweit zu erfüllende Liste, um Armut zu beenden, Ungleichheiten abzubauen und den Klimawandel anzugehen, nicht vergessen gehen. Mit deren Verabschiedung im September 2015, verpflichteten sich alle Mitgliedstaaten der UNO die nachhaltigen Ziele bis 2030 zu erreichen. Also berichtet auch der Bundesrat regelmässig über Erfolg, Umsetzung und Einhaltung der Ziele der UNO. Zur Realisierung der Sustainable Development Goals (SDGs) ist ebenfalls die Wissenschaft gefragt. Aus diesem Grund organisieren die Akademien der Wissenschaften Schweiz zusammen mit der Schweizerischen UNESCO-Kommission am 22. Januar 2018 in Bern eine Konferenz (Anmeldung bis 17. Januar): http://www.akademien-schweiz.ch/index/Aktuell/Agenda.html

-->

Kommentare