Von digitalen Klüften und Anarchisten

 Dr. Franca Siegfried Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften
«An den Gymnasien wird Informatik seit der Maturreform Mitte der 90er-Jahre falsch unterrichtet», sagt ETH-Professor Juraj Hromkovi im Tages-Anzeiger (28.10.2017). In der Schweiz würden nur Betriebsanleitungen von Soft- und Hardware gelernt und nicht das Grundwissen zum Steuern und Entwickeln von Informationstechnologie: «Wir sollten aber Gestalter und nicht Konsumenten erziehen.» In den 1970er-Jahren brachte der US-amerikanische Wissenschafter Phillip Tichenor das erste Mal die Wissenskluft ins Gespräch, welche durch Informationsfluss der Massenmedien entstehe. Abhängig von Bildung, vom sozialen und wirtschaftlichen Status hätten Menschen unterschiedlichen Zugang zu Massenmedien und würden sich auf unterschiedliche Weise Wissen aneignen. Hat sich im Jahr 2017, gemäss Juraj Hromkovi, sogar eine neue, eine sogenannte „digitale Kluft“ in der Schweiz gebildet, da die zukünftige Bildungselite nur in der Rolle als Software- und Facebook-Nutzer unterrichtet wurde?

Verlorene Bildungsoffensive
Warum diskutieren erst jetzt Schweizer Erziehungsdirektoren, siehe auch Medienmitteilung der EDK, über die digitale Kluft der Gymnasiasten? Beschlossen wurde eine weitere Bildungsstrategie, die ein Informatik-Obligatorium am Gymnasium vorsieht. Es ist jedoch nicht etwa nur die Digitalisierung, sondern die Beschleunigung der Entwicklung, die unsere Bildungsstrukturen altern lässt. Gewappnet für die digitale Datenrevolution, darüber schreibt auch die Campus Zeitung der Universität Zürich. Vor zwei Jahren hat die Universität ein Pilotprojekt lanciert, um ein zeitgerechtes Datenmanagement für alle Disziplinen zu entwickeln – Forschende benötigen ein „Data Service Center“ ist der logische Schluss. Wäre etwa auch dieser Service nutzlos, sobald alle Maturanden digitale Gestalter würden? Es ist einleuchtend, dass die meisten Lehrpersonen in ihrem Unterricht kaum mit den Entwicklungsschritten der digitalen Front mithalten können. Über die Nutzung der Social Media wissen die Jugendlichen besser Bescheid als ihre ProfessorInnen. Digital Natives gehen selbstverständlicher mit der digitalen Welt um, als etwa ältere, die als Digital Immigrants erst im Erwachsenenalter das „Handwerk“ erlernten. Soziologisch gesehen, bietet die Digitalisierung auch eine einzigartige Chance zur Generationenverbindung – die Seniorität erübrigt sich in den technologischen Fragen.

Die Anarchisten vom Silicon Valley
Der Gigantismus der IT-Technologen verlangt jedoch nicht nur nach Programmierkenntnissen und technologischem Wissen. Jeder Nutzer sollte ein kritischer, selbstbestimmter Denker sein, der fähig ist, politische und gesellschaftliche Zusammenhänge zu realisieren. Die Digitalisierung stellt nicht nur alles in Frage, sondern verlangt nach einem epochalen Kulturwandel. Adrian Daub, Professor für Literaturwissenschaft der privaten US-amerikanischen Stanford Universität schreibt darüber in der NZZ (20.09.2017): „Dass digitale Technologien grosses anarchisches Potenzial haben, ist klar – sie üben Druck auf das Bestehende aus, sie wirbeln das Herkömmliche durcheinander. Aber seit die Industrie den Durchmarsch aus Garagen und Studentenwohnheimen in Richtung Monopolkapitalismus angetreten hat, stellt sich, sowohl für die führenden Köpfe der Branche als auch für normale Arbeitnehmer, immer drängender die eine Frage: Aus welcher Richtung bläst genau der anarchistische Wind?“ Adrian Daub beschreibt wie junge Menschen, die im Silicon Valley den Ton angeben, den Staat als Störfaktor für ihr Business ansehen. Nur im Notfall würden sie den Staat als Businesspartner akzeptieren. Sie hätten Unternehmen gegründet, die Schlupflöcher nutzen, und dies dann den Etablierten als Trägheit angekreidet. Daub erwähnt das Beispiel Uber: „Sollte morgen die Vorstellung, dass Ubers Fahrer Freiberufler statt Beschäftigte des Unternehmens seien, implodieren, der Konzern wäre übermorgen bankrott. Airbnb, Google, Amazon haben sich in ähnlichen toten Winkeln des amerikanischen Rechts klug eingenistet und dann mit viel Geld dafür gesorgt, dass der Winkel auch tot bleibt.“ Die Ausnutzung von Gesetzeslücken ist keine Innovation.

Ausser Kontrolle
Falschnachrichten auf Facebook könnten die amerikanische Präsidentenwahl beeinflusst haben, das sei «eine ziemlich verrückte Idee», sagte Facebook-Gründer Mark Zuckerberg nach Donald Trumps Sieg. Ein Jahr später wird jedoch bekannt, dass russische Akteure Facebook benutzt haben, um kurz vor der Wahl Falschmeldungen zu streuen und so Trumps Anhänger zu mobilisieren. So gerne sich Zuckerberg in das Mäntelchen des altruistischen Netzwerks hüllt, seine Ideen nutzen auch dubiose Gestalten. Facebook und die Nummer eins, Google, vereinen heute weltweit 50 Prozent des Werbemarktes. Die persönlichen Angaben, welche Nutzer bereitwillig auf der Plattform teilen, ermöglichen Facebooks Anzeigenkunden einen zielgruppenspezifischen Markt. Gleichzeitig sichern alle Nutzer mit ihren Beiträgen einen Fluss an neuen Inhalten für die Anzeigen. „Facebook-Aktie auf Allzeithoch: Boomende Werbeerlöse sorgen für Gewinnsprung“, titelte letzte Woche das Onlineportal www.finanzen.net. „Der Überschuss schoss im Jahresvergleich um 71 Prozent auf 3,9 Milliarden Dollar (3,3 Mrd Euro) hoch, wie das Online-Netzwerk von Mark Zuckerberg am Mittwoch nach US-Börsenschluss mitteilte.“ Die Youngster aus dem Silicon Valley haben ein Imperium geschaffen, das als Selbstläufer ausser Kontrolle gerät.

Digitale Selbstbeteiligung
Es manifestiert sich der Kulturwandel, ausgelöst durch die Digitalisierung in der einfachen Bewältigung des Alltags. Beispiel: Zustellung der Arztrechnung an die Krankenkasse Helvetia zur Rückerstattung. Seit dem 1. September 2017 gibt es keine Klebeetiketten mehr für die Arztrechnung. Mit der Scan-App soll der Kunde mit seinem Mobil die Arztrechnung einscannen. „Sparen Sie Zeit, Papier und Porto“, damit wirbt der Versicherer Helsana. Der Kunde muss sich die Gratis-App herunterladen, das Prozedere dauert, da es eine gewisse Sicherheit für das Login braucht. Was nicht gesagt wird, dass damit der Versicherer sehr viel Geld einsparen kann, die Kunden machen die Arbeit, was bis anhin die Administration bewältigte. Mit der neuen Art von industrieller und digitaler ausbeutender Selbstbeteiligung ist der Begriff der Dienstleitungsgesellschaft definitiv überholt. Serviceorientierte Dienstleister überwälzen mittels App einen Teil ihrer Aufgaben auf den Kunden. Die für diese "Selbstbedienung" verwendeten Mittel sind häufig von den Privathaushalten angeschaffte Konsumgüter, etwa ein Mobiltelefon, die durch ihren Gebrauch jedoch zu Investitionsgütern werden, mit denen man Dienste für sich selbst, aber prinzipiell auch für Dritte leisten kann. Die Ordnung löst sich in der Digitalisierung aus den bestehenden geografischen Orten und verschiebt sich in den Cyberspace. Ökonom und Politikwissenschaftler Christoph Hauser verweist in seiner Publikation „Ordnung ohne Ort“ (NZZ Libro Verlag, Mai 2017) auf die Auswirkungen der Digitalisierung auf räumliche Dimensionen. Beispiel: Eine gedruckte Zeitung. Sobald eine Zeitung am Kiosk gekauft ist, wird sie ein privates Gut – der Besitzer hat dafür fünf Franken hingeblättert. Im Internet ist alles anders. Der Kiosk ist das Internet: Gemäss neuster Studie von fög, dem Jahrbuch Qualität Medien 2017, bezahlen nur 11 Prozent der Schweizer Bevölkerung für online-News. Es informiert sich bereits 41 Prozent der Bevölkerung hauptsächlich über Newssites oder Social Media. Die Zeitung als publizistische Marke ist ihnen unwichtig geworden. Den Lesern bzw. Nutzern geht es um journalistische Inhalte, die auf Facebook oder Twitter gepostet werden. Welche Rolle bekommen dabei die Zeitungs-Verleger? Verglichen mit dem Uber-Modell sind sie eine Art regionale Taxi-Zentrale, eine Organisationsform, die in der Digitalisierung ums Überleben kämpft – neue Modelle sind gefragt. Nebenbei: Diese Situation würde sich auch durch eine Annahme der „No-Billag“-Initative am 4. März 2018 nicht ändern...

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