Der «Umgang mit der Lawinengefahr» als immaterielles Kulturerbe

Dr. Manuela Cimeli, SAGW, Projekt «Sprachen und Kulturen»

Am 29. November 2018 hat die UNESCO die gemeinsam eingegebene Kandidatur der Schweiz und Österreichs zum Umgang mit der Lawinengefahr in die repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen.

Neue Anforderungen an den Umgang mit Lawinen
Aus der Theorie wissen wir, dass Lawinen im schneebedeckten Gelände ab einem Neigungswinkel von 30° abgehen können. Allerdings müssen auch Faktoren wie die Exposition eines Hanges, die Schnee-, Wetter und Windverhältnisse der letzten Tage oder Wochen, die Hangform, die Topographie und beispielsweise auch die Kammnähe eines potentiellen Lawinenhangs beachtet werden. Eine einfache Faustregel lautet daher: «Je steiler ein Hang, desto gefährlicher ist er.»
Lawinen fordern seit Jahrhunderten unzählige Menschen- und Tierleben. Viele Text- und Bildzeugnisse aus vergangenen Zeiten erzählen von dieser Naturgefahr oder bilden sie ab. Wer im Alpenraum leben oder sich aufhalten will, musste und muss sich zwangsläufig mit der Lawinengefahr auseinandersetzen. Der Umgang mit der weissen Gefahr wurde in den letzten Jahrzehnten immer wissenschaftlicher. Durch das gewachsene Freizeitangebot halten sich immer mehr Personen in potentiellen Lawinengebieten auf, müssen immer mehr Schutzmassnahmen für exponierte Verkehrswege gebaut werden und sind auch die Siedlungs- und Raumplaner gefordert, Lawinenverbauungen aufzustellen bzw. möglichst lawinensichere Gebäude zu errichten.

Lawinen als immaterielles Kulturerbe
Das Wissen, welche Lawinenzüge erfahrungsgemäss ins Tal donnern, wird meist mündlich von einer Generation zur nächsten weitergegeben. Die Leute haben den verschiedenen Lawinenzügen bzw. den Lawinen auch Namen gegeben, welche dann an die nachfolgenden Generationen tradiert werden. Und trotzdem geschehen immer wieder Lawinenunglücke: Trotz des täglich zweimal aktualisierten Lawinenbulletins des Schweizerisches Lawinenforschungsinstituts (SLF) in Davos, trotz präziser Wettermodelle, trotz kompetenter Risikoeinschätzung und trotz des grossen Wissens, das wir von früheren Generationen her überliefert bekommen haben, ist die Gefahr des weissen Todes nicht gebannt und es sterben im Schnitt im Winter jährlich 25 Menschen in der Schweiz bei Lawinenunfällen. Es gibt die populäre Redewendung «Die Lawinen kommen dort, wo sie immer kommen; aber auch dort, wo sie nie kommen.». Sie zeigt sehr deutlich, dass bei allem Erfahrungswissen und trotz der Expertisen von ausgewiesenen Fachleuten der Umgang mit der Lawinengefahr auch für künftige Generationen eine sehr aktuelle Thematik bleiben wird, ein immaterielles Kulturerbe, das nun auch auf der UNESCO-Liste steht.

Lebendige Traditionen in der Schweiz
Die Schweiz hat sich am 16. Oktober 2008 durch die Ratifikation des UNESCO-Übereinkommens zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes (IKE) verpflichtet, ein „Inventar des immateriellen Kulturerbes in der Schweiz“ zu erarbeiten, zu führen und periodisch zu aktualisieren. Dieses Inventar ist seit Herbst 2012 unter dem Titel „Liste der lebendigen Traditionen in der Schweiz“ in Form einer umfassenden Dokumentation des immateriellen Kulturerbes der Schweiz in Wort, Bild und Ton auf www.lebendige-traditionen.ch zugänglich.

Kommentare