Wie geht es den lebendigen Traditionen?

Dr. Franca Siegfried Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften

Von A wie „Aarauer Bachfischete“ bis Z wie „Zürcher Technokultur“ – schön alphabetisch geordnet hat das Bundesamt für Kultur (BAK) die „lebendigen Traditionen“ unseres Landes. Im Juli wurde jetzt die Liste erstmals ergänzt: Stand die „Zweisprachigkeit Biel“ ursprünglich am Schluss als Z, steht sie neu bei B als „Bilinguisme à Biel/Bienne“.

199 lebende oder lebendige Traditionen...
Im Oktober 2003 wurde das Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes von der UNESCO-Generalkonferenz verabschiedet und trat drei Jahre später in Kraft. Es ergänzt den Schutz des Kultur- und Naturgutes der Welt von 1972. Und vor fünf Jahren publizierte das BAK eine erste Fassung von der «Liste der lebendigen Traditionen in der Schweiz». Jetzt hat das Bundesamt für Kultur die Liste erweitert auf insgesamt 199 Traditionen.

Sie leben wirklich!
Eine erste Auseinandersetzung der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) mit der UNESCO-Konvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes mündete in einer Ratlosigkeit: Aus einer sozial- und geisteswissenschaftlichen Perspektive ist weder die Trennung von materiellem und immateriellem Kulturerbe noch die Absicht, kulturelle Praktiken aufzulisten, überzeugend begründbar. Für die Aufklärung in dieser Sache sorgten ExpertInnen im SAGW-Bulletin 3/2014. Es zeigte sich, dass die mangelnde Stringenz der Konzepte eine kreative Auseinandersetzung mit Kultur und Tradition ermöglichten. Damit wurde auch ersichtlich, dass Traditionen nicht etwa nur statisch sind, sondern sich ständig weiterentwickeln bzw. lebendig bleiben.

Wer spricht noch Rätoromanisch?
Man kann sich wundern, warum die vierte Landessprache nicht auf der Liste der lebendigen Traditionen steht, zumal nur noch 0,5 Prozent der Bevölkerung diese Sprache im Alltag spricht – ein schützenswertes immatrielles Kulturerbe. Die einzige rätoromanische Tageszeitung «La Quotidiana» steht vor dem Aus. Der Verlag Somedia wird die Zeitung nur noch bis Ende 2017 herausgeben. Zum Glück gibt es noch Forschungsprojekte in der vierten Landessprache. So hat Ursin Lutz Redaktor beim „Diczunari Rumantsch Grischun“ (ein Unternehmen der SAGW) eine sprachwissenschaftliche Doktorarbeit über das Leben von Balthasar Gioseph de Vincenz (1789-1858) geschrieben. Dieser Bündner zog mit 16 Jahren in den Krieg nach Spanien. Als wohlhabender Oberleutnant kehrte er in seine Heimat zurück. Danach organisierte er in Spanien eine Kolonie für verarmte Bündner: Viele Landsleute folgten ihm und er brachte sie um ihr letztes Hab und Gut. Die Kolonie in Spanien war ein Flop. Danach verarbeitet De Vincenz sein Missglück in einem Tagebuch geschrieben in einem Mix aus Rätoromanisch und Spanisch.

Nummer 73 – Gebetsheilen oder Gesundbeten 
Das BAK hat alle 199 Traditionen in fünf Kategorien eingeteilt, beispielsweise gesellschaftliche Praktiken, mündliche Ausdrucksweisen oder Umgang mit der Natur. Zum Umgang mit der Natur gehört etwa das „Gesundbeten“, das häufig in den Kantonen Jura und Freiburg gelebt wird: Wunden, Verbrennung, Angina und Kopfschmerzen lassen sich damit behandeln. In allen Spitälern und Heimen sind wirksame Heiler bekannt. Das Gebetsheilen ist ein Akt der Barmherzigkeit und ein Mysterium, dessen Kraft über das rationale Denken der heutigen Zeit hinausgeht. In dieser Welt existieren keine Tarife, kein Gewinnstreben und die Heiler sind auch in keinem Verband wie FMH organisiert.

Wie lebt es sich mit Chuchichäschtli?
Ein immaterielles kulturelles Erbe wird von menschlichem Wissen und Können getragen, von Generation zu Generation vermittelt und ständig weiterentwickelt. Zum Sprachwandel in den letzten 100 Jahren im Churer Rheintal hat im Rahmen eines SNF-Projektes Oscar Eckhardt am Institut für Kulturforschung Graubünden eine Studie gemacht: Von 1917 bis 2017 entwickelt sich ein neuer, regionaler Dialekt, der sich am Churer-Dialekt orientiert. Dabei ist der eigenwillige Wortschatz der einzelnen Dörfer zusammengeschrumpft. Die rätoromanisch Sprechenden haben den überregionalen Dialekt, das sogenannte Bündner- oder Churer-Deutsch, in ihrem Alltag integriert. Siehe aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Babylonia:
http://babylonia.ch/de/archiv/2017/nummer-2/eckhardt/

1.-August als immatrielles Kulturerbe
Am Nationalfeiertag erleben wir ein Feuerwerk von lebendigen Traditionen: Wir freuen uns an Höhenfeuer, singen „Trittst im Morgenrot daher (...), zünden bengalische Zündhölzer an, essen Würste und hören Alphorn. Die Idee der 1. August-Feier stammt nicht aus dem Jahr 1291, sondern 1891, als die Berner das 700-jährige Bestehen der Stadt feiern wollten. Der Geburtstag der Schweiz ist definitiv ein immatrielles Kulturerbe: Zu jeder 1.-August-Feier gehört auch die feierliche Rede einer Schweizer Persönlichkeit aus Politik, Wirtschaft, Sport oder Kunst. Am 1. August 2012 erklärte der soeben verstorbene Polo Hofer (72) die Bedeutung von Swissness. Der Mundart-Rocker hinterlässt ein weiteres immatrielles Kulturerbe mit seinen Songs, die eine ganze Generation berauscht und verzaubert haben – Polo Hofers Lieder werden weiter leben...
https://www.youtube.com/watch?v=s0pCCKvHpHY

Und noch eine Bemerkung
Warum die 1.-August-Feier nicht Nummer 200 auf der Liste lebendiger Traditionen ist, das ist mir schleierhaft – zumal im 2018 auch noch das Jahr des Kulturerbes zelebriert wird. Und die Nummer 168, der Töfftreff am Hauenstein (SO), könnte durchaus mit Polo Hofers Mundart-Rock ergänzt werden – jedenfalls wurde der Kultfilm und Road Movie „Easy Rider“ auch mit Rockmusik untermalt.

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